Die bevorstehende Kehre in der Welt- und Raumerfahrung der Muslime
Nachdem der Raum von jeher in der Welt war, hat sich die Raumerfahrung
heute in das Gegenteil verkehrt: die Welt ist heute im Raum. Diese neuartige
Erfahrung des Raumes korrespondiert mit der These des deutschen Rechtsdenkers
Carl Schmitts, daß der neuzeitliche Nihilismus sich durch eine eigenartige
Ortungslosigkeit auszeichne. Nach Schmitt wird der herrschende Nihilismus durch
seine wesensmäßige Trennung von Ordnung und Ortung bestimmt. Im
gleichen Umfang wie die ordnenden Strukturen planetarisch werden, verliert sich
die alte lokale Bezogenheit und Verbundenheit des Menschen zu seiner Heimat.
Ordnung und Ortung als wesensmäßige Einheit hatte die kulturelle
Identität und Heimat des Menschen erst entscheidend ermöglicht.
Demzufolge versucht sich der nun heimatlos gewordene Mensch sich in letzter
Konsequenz auf dem Mond und Saturn einzurichten. Der Raum und das Nichts
verschmelzen in der Erfahrung der eigenen Nichtigkeit.
Die alte Welt entledigt sich derweilen der alten Ortungen und
Ordnungen des alten europäischen Kontinents. Rom und Berlin, Paris und
Madrid werden zu nivellierten Weltstädten einer monotheistischen
Einheitskultur, die keine spezifische Ortung mehr braucht oder hervorbringt. Die
mit dem Schlagwort Globalisierung gemeinhin charakterisierte Dynamik des
kommenden Jahrhunderts ist vorallem die lautlose und widerstandslose
Durchsetzung einer globalen, ortungslosen Ordnung der Finanztechnik. Diese
weltbeherrschende und totale Technik selbst verkörpert den eigetümlichen
Wesenswandel dieses Jahrhunderts. Für den politischen Menschen ist die
Frage nach der tieferen Dimension der Technik die eigentlich Letzte der
polarisierenden Grundfragen. Die Einen verteufeln hierbei die Technik als das "Böse",
die anderen sehen die gute Technik als Ersatz für die fad und unzulänglich
gewordene Moral des Menschen. Den nationalen Politiker bleibt vorbehalten den
Prozeß der Entmachtung des Menschen ethisch zu kommentieren, nicht jedoch
den Vorgang selbst zu beeinflussen. Nur die Ökonomen verfügen über
die hierzu notwendigen planetarischen Instrumente.
Nach der säkularen Position ist es daher heute nicht mehr der
Homos Politicus der den Weltengang beeinflußt. Die integrativen Sachzwänge
und Automatisierungsvorgänge des sich selbst erzwingenden one-world
Wirtschaftsraum sind es, die das Geschehen vorgeben. Der Mensch regiert nicht
mehr, er reagiert.
Das Schicksal ist nach dieser vereinfachenden Sicht dem
Menschen von der Technik aus der Hand genommen. Gegenüber diesem eigentümlich
versklavten neuen Menschentypus und seiner Trübsal hatte Martin Heidegger
ausgerufen, nur ein Gott könne ihn retten. Einem berühmten Wort, daß
Carl Schmitt um den verwandten Gedanken erweitert hat, daß nur ein neuer "Nomos"
uns miteinander retten könne. Für diesen neuen Nomos braucht es die Göttlichkeit,
aber auch den ganzen Menschen.
Das griechische Wort vom Nomos hatte Schmitt hierbei jenseitig der
postmodernen Doktrin übergeordneter Menschheitsgesetze aufgefaßt. Der
Glauben an die Wirksamkeit solcher rationalen Verbindlichkeiten war durch den
planetarischen Terror der letzten fünfzig Jahre zutiefst erschüttert
worden . Die vielbenutzte These, die Menschheit sei Träger von Rechten,
hatte nur recht und schlecht im neuzeitlichen ethischen Diskurs den Umstand
verbergen lassen, daß Millionen von Menschen nach dem 2.Weltkrieg
angesichts der nihilistischen und ökonomischen Realität der Erde
gewaltsam den Tod fanden. Schmitt begriff den neuen Nomos innerhalb dieser Umstände
nicht als die Durchsetzung des letzten vom Menschen entworfenen moralischen
Meta-Gesetz.
Schmitt rettete vielmehr die authentische Bedeutung des
griechischen Wort Nomos, als ãNehmen, Teilen, Weiden - als einheitliche,
Mensch und Welt umfassende Lebenspraxis - ins nächste Jahrhundert. Dieser
rechtschaffende Grundvorgang des menschlichen Tuns, sah Schmitt als den
Grundvorgang des wesentlich existierenden Menschen an. Der so wissende Mensch
verkörpert in Wissen und Handeln das Recht, ist es . "Recht ist mehr
als staatliche Legalität" lautet eine der berühmten
Kerneinsichten Schmitts. Das Recht ist vor und über dem Staat, dem
politischen und geschichtlichen Ergebnis der christlichen Metaphysik und es ist
der nihilistische, sälkulare Staat der das Recht nicht mehr von der bloßen
Legalität zu unterscheiden vermag. Nach dem Verständnis von Schmitt
ist das Recht entweder zeitlos offenbart oder aber das bloße subjektive
Recht des historischen Siegers . Für die Qualität eines echten Nomos
muß das Recht nicht nur nehmen (beispielsweise Steuern), sondern auch eine
dauerhaft politisch und ökonomisch gerechte Wirklichkeit vorgeben und
zugleich etablieren.
In diesem Sinne war der Golfkrieg das schaudernde
Beispiel, daß der militärische Sieger keinen neuen Nomos etabliert,
weil er keinen hat. Vielmehr beschränkt sich Krieg und Frieden dieser
Ordnung, seinem Charakter entsprechend, auf die Nahme: sei es Rohstoffe oder sei
es Steuern. Solange der Islam nicht das eigenständiges Recht der Ökonomie
aus einen Quellen birgt, hat er seine Möglichkeit ein künftiger Nomos
zu sein nicht gefunden. Er ist dann nur in der Lage den größten Feind
zu besiegen oder zu bekämpfen, nicht aber den Islam als einen
ganzheitlichen und friedlichen Nomos zu etablieren.
Heute steht der Islam für die bevorstehende dramatische Kehre des
Menschen in seiner Raumerfahrung und seinem Rechtsempfinden. Das Bemerkenswerte
hierbei ist, daß die geistige Voraussetzungen für den Islam, als
einen Nomos der Erde, aus dem europäischen Denken heraus vorbereitet
wurden. Die Muslime sind gerade dabei zu begreifen, daß sie ihrem eigenständigen
offenbarten Raum- und Rechtsempfinden, ihrer Art und Weise des "In-der-Welt-seins"
durch die moderne Doktrin des säkularen Nationalstaates entfremdet wurden.
Die geistige Grundlage der Nation, die Rasse, war und ist ein ganz und gar
unislamischer Gedanke. Der Ägypter, der Tunesier, der Kurde und der
Algerier als der nationale Typus sind keine islamischen Bestimmungen, sondern
entsprechen dem westlichen Raum- und Ordnungsdenken. Dieses Ordnungsdenken sah
zunächst weltliche Herrschaft als die Beherrschung des Raumes durch ein
souveränes Volk an. In der arabischen Welt hatte die Entdeckung nationaler
Identität gleichzeitig das Ende der unabhängigen islamischen
Herrschaft bedeutet.
Es versteht sich von selbst, daß der Muslim der diese Einheit
des Islam will, heute nicht für den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts kämpfen
wird. Für das Schicksal des Islam ist es irrelevant ob Palästina ein
Staat wird, solange die Existenz der Muslime gesichert und sie ihre Lebenspraxis
dort ausführen können. Staatsgründung heißt heute vorallem
die Etablierung von Polizei, Verwaltung, vorallem aber Staatsverschuldung, nicht
aber die politische Befreiung der Menschen. Das Ziel ein Staat zu sein ist für
alle politisch denkende Menschen längst eine antiquierte
Ordnungsvorstellung des 19. Jahrhunderts. Deswegen ist auch die moderne
politische Zielvorstellung eines fundamentalistischen "Gottesstaat"
schon begrifflich ein westlicher und damit weltlicher Fundamentalismus.
Die Muslime sind daher von jeher vorbereitet auf eine Welt, die sich nicht mehr
auf nationale Entwürfe gründet. Diese neue Welt erlaubt dei Einheit
der Menschen, der Europäer, aber auch der Muslime.
Bis heute sehen
viele Muslime die vorgegebene Aufgabe noch allein im Ausbau technisch
vollkommener nationaler, später weltumspannender Massenorganisationen. Sie
folgen dem Grunde nach dem Gedanken Nietzsches, daß Macht "organisierter
Wille sei". Gradmesser und Ausdruck der wirklichen Macht des Islam ist
jedoch allein die Einheit der Ummah innnerhalb der vorgegebenen Lebenspraxis,
also innerhalb der Wahrung der Rechte ALLAHs.. Diese Einheit, nicht die
strukturelle Weltherrschaft oder die Etablierung von desperaten Nationalstaaten
ist das eigentlich politische Ziel des Islam.
Der Islam hat von vornherein zwei wesentliche Pfeiler die seine
Ordnung und Verortung in dieser Welt beschreiben: Hajj und Gebet. Beides steht für
die geistige Verortung des Muslim in der Einheit seiner Welt: eine Welt, die
Mond, Erde, räumliche Ausrichtung, den Einzelnen und das Gemeinwesen
mitumfasst. Millionen von Muslimen pilgern von allen Erdteilen nach Mekkah und
Madinah und "werden" dort zu Brüdern. In jeder Minute orientieren
sich im Gebet Millionen von Gläubigen nach Mekka. Auf der Reise nach Mekkah
und Madina macht der Muslim die Erfahrung der innernen und äußeren
Grenzenlosigkeit, ganz im radikalen Gegensatz zu dem hilflos irrationalen Sehnen
des modernen Menschen den Saturn zu erorbern.
Heideggers Analyse des
Daseins als ein notwendig ausgerichtetes "In-der-Welt-sein" hat in der
islamischen Lebenspraxis durch das Gebot der Pilgerreise eine wesentliche und
einheitliche Bestimmung. Erst durch die Pilgerreise vervollkommt sich das "in-der-Welt-sein"
des Muslims in der existentiellen Erfahrung der Einheit seiner Welt jenseits von
Raum und Zeit. Diese Gewißheit und diese Erfahrung prägt auch seine
Politik. Auf der Hajj erfährt der Muslim die evidente Irrelevanz nationaler
Entwürfe und Unterschiede.
Die Politik versagt die geistige Einheit Europas zu stiften.
Beethovens zutiefst europäische und humane Einsicht der Brüderlichkeit
aller Menschen, hatte sein Vorbild in der Ummah, der Weltgemeinschaft der
Muslime. Die Einheit der Muslime ist keine Idee, sondern die existentielle
Konsequenz der islamischen Lebenspraxis. Das Faszinerende am Islam ist heute, daß
er tatsächlich die Bedingungen eines Nomos der Erde zu sein erfüllt,
wenn auch auf eine sehr eigentümliche Weise. Die Welt und ihre Bedeutungen
sind für den Muslim als Ganzes schon von jeher offenbart.
Neben diesen
geistigen Grundlagen der geistigen Freiheit und Verortung des Muslim, hat seine
Ordnung des Islam, der Shariat von jeher und immer auch eine Ortung
hervorgebracht. Alle Hochphasen des Islam sind auch Hochphasen von Städten,
also natürlichen Ortungen. Die natürliche Verortung des Muslim ist
politisch bereits durch die lokale Erhebung des Zakat vorgegeben. Sind Zakat und
Hajj korrekt etabliert ist der Islam bereits ein vollständiger Nomos der
Erde.
Die flächenmäßige Besetzung des Raumes - wie dies
durch Staaten oder Staatenbünde geschieht - ist insofern nach der
vorgegebenen Gesetzlichkeit des Islam nur ein zweitrangiges Ziel. Der heutige
islamische Staat ist deswegen durchaus Teil des westlichen planetarischen
Ordnungs- und Raumdenkens des letzten Jahrhunderts.
Am Phänomen Istanbul scheidet sich heute Freund und Feind.
Istanbul - zur Wende dieses Jahrhunderts - weniger eine türkische, als eine
islamische Stadt, ist die lebensnotwendige Ortung der Muslime. Die Gegner
Istanbuls in der Ummah setzten notwendigerweise auf einen nationalen Islam, der
innerhalb der geistigen Ordnung des Westens bleibt und durch "islamische"
Supertechnik den Wettlauf gewinnen soll.
Die Muslime, infiziert von dem
Ordnungsdenken des europäischen Nomos und seiner Auflösung in eine
planetarische Raumordnung, haben die natürliche Bedeutung Istanbul für
alle Muslime noch nicht völlig realisiert. Natürlich ist der Blick auf
Istanbul durch die nationale Epoche und ihre eingeschränkte Sicht heute ein
eigentümlich distanzierter geworden. Die Einheit des Islam als eine eine
politische und rechtliche Ordnung bedarf der Verortung in einem natürlichen
Zentrum. Ein Blick auf die Weltkarte genügt um die geopolitische Bedeutung
Istanbuls für die Freiheit der Muslime so neu zu verstehen.
Es verwundert nicht, daß Istanbul heute die sorgsam ausgewählte,
strategische Schlüsselposition der neuen atlantischen Weltordnung
darstellt. Istanbul birgt und symbolisiert aber auch die kontinentale Achse der
Muslime. Die strategische Achsen und das Schicksal dieser Ordnungen führen
durch Istanbul . Es sind daher nicht die Türken, die in der Türkei
entscheiden wann der politische Ausnahmezustand eintritt.
Ganz im Geiste
dieses ökonomisch orientierten Jahrhunderts wird die Bastion Istanbul durch
eine Taktik besetzt, die die klassischen Definitionen von Freund und Feind,
innnen und außen ad absurdum führen. Die Taktik ist die ökonomische,
innere Schwächung der türkischen Nation durch den türkischen Lira
und die strategische Abnabelung der Türken von den Regionen Zentralasiens.
Inwieweit die Kirche die Christianisierung Zentralasiens mitträgt, dann um
die geopolitische Isolierung der Türkei im ökonomischen Interesse des
Westens mitvoranzutreiben.
Die Einheit der Ummah ist kein mystischer Vorgang, sonder wird durch
den Ritus der Hajj immer wieder vollzogen und auch immer wieder geistig
vorbereitet. Der religiös korrekt vollzogene Ritus erfordert hierbei den
offenen und frei zugänglichen Landweg. Istanbul war von jeher der
politische Garant dieses Zugangs.
Es ist an der Zeit geworden, daß
die Muslime ihre politischen Auffassungen einer sich verändernden Welt
anpassen.
Quelle: Islamische Zeitung