Eine weitere Facette am
"Originalgenie" Johann Wolfgang von Goethe ist nun gründlich ausgeleuchtet.
Neben Sturm und Drang und Klassizismus, Farbenlehre und Zwischenkieferknochen, Dichtung
und Wahrheit hat Goethe bekanntlich auch die Literatur anderer Nationen und fremder
Kulturkreise zugänglich gemacht. Wie intensiv er sich beispielsweise mit dem Islam
auseinandergesetzt hat, blieb lange Zeit bloße Ahnung und war bis vor einem Jahrzehnt
auch professionellen Goethe-Kennern unbekannt.
Katharina Mommsen hat in einer voluminösen Studie 1988 dieses Verhältnis untersucht. In
einer verkürzten Variante liegt diese Arbeit nun als preiswertes Insel-Taschenbuch vor.
Auch wenn man so manches aus dem Nachwort des Herausgebers Peter Anton von Arnim nicht
unterschreiben mag, ein sehr wertvoller Beitrag für die aufgeheizte Debatte um den Islam
ist das Buch allemal. Denn es besagt eines: bei allen üblen Zügen hat der Islam auch
eine ungemein faszinierende Seite, eine literarische.
Der "West-oestliche Divan" gilt ja als der Beleg für Goethes Interesse am Orient und orientalischer
Dichtung. Doch zeigt sich schon an der Komplexität der Gedichtsammlung des Divans, dass
Goethe sehr gut mit Islam und arabischer Dichtung vertraut war. Alle Aspekte seines
Orientinteresses werden von Frau Mommsen im Detail zusammengetragen und erläutert: von
der Begeisterung des jugendlichen Goethe für den Propheten Mohamed bis zur Arbeit am
Divan, bei der der Dichter im fortgeschrittenen Alter gleich mehrere Liebhabereien
einfließen ließ.
So fanden die getauschten Gedichte mit der großen Liebe Marianne von Willemer darin ihren
Niederschlag. Dann die späte Entdeckung des persischen Dichters Hafis, den Goethe sich
zum "Zwilling" erkor. Ein weiterer Gegenstand leidenschaftlichen Interesses war
ihm der Koran.
Goethe war natürlich auch mit der Bibel sehr gut vertraut, schätzte sie als
Sprachkunstwerk und war voll des Lobes für Luthers Übersetzungsleistung. Für sein
Religionsverständnis stand ihm aber der Koran näher.
Wenn Goethe sich einmal scherzhaft "Muselmann" nannte, so war er doch weit davon
entfernt, zum Islam zu konvertieren. Er glaubte vielmehr im Koran einen welt- und
lebensbejahenden Glauben vorzufinden - und wenn ihm etwas nicht gefiel, wie die
nachgeordnete Stellung der Frau, das Weinverbot und die Anfeindung der Poesie, dann
"korrigierte" er es in entsprechenden Gedichten.
Mommsens Buch ist zweifellos eine germanistische Arbeit, aber bei ihr gehen Gelehrsamkeit
und Sprachgefühl so glücklich zusammen, dass das Werk auch für Laien leicht zu lesen
ist. Höhepunkt, Zusammenfassung und Schluß ist die Interpretation des Vierzeilers, der
da mit "Gottes ist der Orient!" beginnt. Die Quintessenz der geistigen
Auseinandersetzung mit dem Islam lägen in diesen Versen: sie seien Friedensprogramm, eine
angedeutete Rangordnung und enthielten doch auch eine einheitsstifende Kreuzmetapher. Die
der vollständige Vierzeiler:
Gottes ist der Orient! / Gottes ist der Occident! / Nord- und südliches Gelände / Ruht
im Frieden seiner Hände.
Andreas Kock
Katharina Mommsen: Goethe und der Islam. Herausgegeben von Peter Anton von Arnim, Insel
Verlag, Frankfurt am Main 2001, 527 S., 15 Euro.Quelle: N-TV
vom 12.02.2002 |
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