Die öffentliche Debatte über den
Islamischen Religionsunterricht

Über den Umgang mit einer religiösen Minderheit



Inhalt

Obwohl der Islam in Deutschland inzwischen zur drittstärksten Religionsgemeinschaft geworden ist, gestaltet sich der Umgang der Mehrheit mit der religiösen Minderheit trotz eindeutiger Rahmenbedingungen im demokratischen Rechtsstaat recht schwierig. Präsenz und Erscheinungsformen islamischer Religiosität wollen sich nicht so recht in die hier im Westen historisch entstandenen Vorstellungen vom Verhältnis zwischen individueller privater Religiosität einerseits und den Spielregeln des öffentlichen Raumes andererseits einfügen. Sobald die religiös begründete Lebenspraxis die Privatsphäre verläßt und der praktizierte Glaube öffentlich sichtbar und gesellschaftspolitisch relevant wird, scheint das westlich-abendländische Selbstverständnis in seinen Grundfesten erschüttert.

Ein Fundus von Vermeidungs- und Abwehrstrategien wird aktiviert, um theoretisch vorgegebene demokratische Grundlagen der deutschen Rechtsverfassung nicht in die gesellschaftliche Praxis umsetzen zu müssen. Wer die endlosen und größtenteils beschämenden Debatten über Moscheebauten, Minarette, den Ruf des Muezzin zum Freitagsgebet, islamische Friedhöfe und Grabfelder, die Frage der Schächtung, die Akzeptanz Kopftuch tragender Schülerinnen bzw. Lehrerinnen usf. verfolgt, erkennt den "roten Faden" des Umgangs mit dem Islam/den Muslimen in der deutschen Gesellschaft: Die Anerkennung der berechtigten Forderung nach ebenbürtiger Partizipation von Muslimen ist - dies belegen die bisher geführten wie auch die derzeit aktuellen Auseinandersetzungen - an zahlreiche einseitig von den Muslimen zu erbringende Vorleistungen geknüpft, welche die Mehrheitsgesellschaft zum Maßstab sogenannter Integrationsbereitschaft und -fähigkeit gemacht hat.

Die aktuelle Auseinandersetzung über Islamischen Religionsunterricht (im folgenden IRU), der immerhin ca. 570.000 muslimische SchülerInnen in der Bundesrepublik betrifft, zeigt in exemplarischer Weise, wie sich die Mehrheitsgesellschaft vorstellt, den Islam und die Muslime in Deutschland "einzufangen" und zu "domestizieren" - so die Formulierung der baden-württembergischen Kultusministerin Annette Schavan, zugleich Mitglied des Zentralkomitees der Katholiken. [1] Die Wortwahl allein läßt Zweifel an der ebenbürtigen Wahrnehmung des muslimischen Teils der Bevölkerung aufkommen und legitimiert die Forderung nach einseitig zu erbringenden Anpassungsleistungen, quasi als Beweis der muslimischen Zivilisiertheit (!). IRU an öffentlichen Schulen in Deutschland gehört trotz eindeutiger rechtlicher Vorgaben nicht zu den selbstverständlichen Rechten dieser religiösen Minderheit; allerdings scheint sich der inakzeptable Zustand bald zu ändern.

1. Um welche Zielgruppe geht es?

Inzwischen ist es offensichtlich, daß ein fester muslimischer Bevölkerungsanteil auf Dauer in der Bundesrepublik lebt und bleibt: teils ohne deutschen Paß, aber in das deutsche Bildungs und Erwerbssystem integriert; teils mit doppelter Staatsangehörigkeit, teils Eingebürgerte, teils deutsche Eingeborene. Ein großer Teil dieser heterogenen muslimischen Minderheit in Deutschland ist organisiert bzw. angebunden an Moscheegemeinden und entsprechende Dachverbände, die sich zu drei großen Spitzenverbänden (ZMD, Islamrat, DITIB) zusammen geschlossen haben. [2])

Trotz teilweise unterschiedlicher Schwerpunktsetzung in der Verbandsarbeit besteht eine grundsätzliche Übereinstimmung in religiösen Fragen, d.h. in Bezug auf die Grundlagen des Glaubens, wie sie durch die gemeinsamen Quellen Koran und Sunna fixiert sind: die sechs Glaubenspfeiler sowie die fünf Säulen des Islam gelten für alle Muslime, ungeachtet regionaler z.T. traditionell begründeter verschiedener Ausdrucksformen im Alltag, in der Glaubenspraxis, und ungeachtet der von den islamischen Rechtsschulen genutzten Interpretationsspielräume. Die gängige Vermischung von regional geprägten - z.T. patriarchalen, rückständigen - Traditionen einerseits, die - oftmals in Unkenntnis der Quellen - als islamisch identifiziert werden und den orthodoxen Inhalten der Religion andererseits überlagert diese Eindeutigkeit und drückt dem Islam als Ganzem den Stempel der Unfähigkeit zu Moderne und demokratischer Entwicklung auf.

Auf der Basis der Quellen ist jedoch eine Einigung über verbindliche gemeinsame Glaubensgrundsätze mit dem Ziel der Entwicklung geeigneter Curricula für den IRU nicht das größte Problem. [3] Inzwischen hat der Pädagogische Fachausschuß im ZMD am 26.4.1999 den Entwurf eines Lehrplans für den IRU der Primarstufe vorgelegt. [4]

Eine wichtige Klarstellung muß den folgenden Ausführungen voran gehen: auch wenn der größte Anteil der betroffenen Familien bzw. SchülerInnen aus der Türkei stammt, handelt es sich beim IRU nicht um eine "Ausländerfrage", sondern um die Gleichberechtigung einer religiösen Minderheit im konfessionell neutralen Staat, also eine religionspolitische bzw. bildungspolitische Frage, die knapp drei Millionen BürgerInnen in Deutschland betrifft. Die Frage der Gestaltung eines den Bedürfnissen dieser muslimischen Minderheit angemessenen Unterrichtsangebotes kann daher nicht Sache ausländischer Instanzen (Türkei oder andere Herkunftsländer muslimischer MigrantInnen) sein; ebensowenig sind migrationspolitische Vereinigungen, Kulturvereine, Ausländerbeiräte oder andere Interessensgruppierungen (Unternehmerverbände, akademische Institute o.ä.) als Ansprechpartner akzeptabel. Die Umsetzung des IRU in die Schulpraxis ist Sache deutscher Instanzen, die ihren Ansprechpartner in der islamischen Religionsgemeinschaft in Deutschland zu finden haben - jede andere Lösung stellt die Souveränität des deutschen Staates in Bezug auf die Gestaltung seiner Bildungspolitik in Frage.

2. Worum geht es in der Debatte?

Im konfessionell neutralen Staat sind die verschiedenen Religionsgemeinschaften gleichgestellt in Bezug auf den Schutz ihrer Glaubensentscheidung. Grundgesetzlich fixiert sind das Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit (Art. 3,4 GG) sowie das Recht auf einen in Verantwortung der jeweiligen Religionsgemeinschaft erteilten konfessionellen Unterricht (Art. 7,3 GG). In der konkreten Umsetzung sehen die Länderverfassungen unterschiedliche Wege vor (besondere Regelungen in den neuen Bundesländern, Hamburg, Berlin, Bremen), die jedoch das Grundrecht (bisher) in keinem Fall in Frage stellen. Vorgesehen ist - jeweils in Länderkompetenz - Religionsunterricht als ordentliches versetzungsrelevantes Lehrfach, dessen Ordnung und Durchführung staatliche Aufgaben darstellen, während Ziele und Inhalte des Unterrichts von den Religionsgemeinschaften selbst bestimmt werden. Das Verfahren setzt voraus, daß die Religionsgemeinschaft auf Dauer im Bundesland präsent ist, einen religiösen Konsens der Mitglieder formuliert hat, ein Bekenntnis nach außen zeigt und eine stabile Organisationsstruktur hat. [5] Aufgabe der jeweils zuständigen Landesministerien ist es, die Übereinstimmung der Lehrpläne mit der Verfassung zu überprüfen, da Religionsunterricht - wie Schulunterricht im demokratischen Staat generell - der Sicherung der Grundrechtsausübung dienen soll.

Für eine den juristischen Vorgaben entsprechende Umsetzung in die Schulpraxis sind folgende Fragen zu klären:

  • Wer soll unterrichten; wer wählt das Lehrpersonal aus?
  • Wer verantwortet den Unterricht?
  • Mit welchen Materialien wird gearbeitet (Schulbücher, Curriculum)?
  • Wie transparent ist der Unterricht für die deutschen Ministerien?
  • Wie und wo werden die LehrerInnen ausgebildet?

Die aktuelle Forderung der beiden großen islamischen Spitzenverbände ZMD und Islamrat entspricht der juristisch vorgegebenen Umsetzung des IRU als ordentliches Fach an öffentlichen Schulen, analog zum christlichen Religionsunterricht (evangelisch oder katholisch) bzw. den inzwischen ebenfalls genehmigten jüdischen oder (christlich-) orthodoxen Angeboten. Der geforderte Unterricht soll in Verantwortung der islamischen Religionsgemeinschaft, in deutscher Sprache, unter deutscher Schulaufsicht und mit an deutschen Hochschulen ausgebildeten LehrerInnen erteilt werden, wofür konsequenterweise Lehrstühle für islamische Theologie einzurichten wären, um eine Ausbildung entsprechend den Lehrämtern für evangelische bzw. katholische Theologie zu ermöglichen.

Seit 1996 liegt ein entsprechender gemeinsamer Antrag von ZMD und Islamrat beim Kultusministerium in NRW, er zog allerdings bisher keine weiteren klärenden Schritte (z.B. Verhandlungen, Formulierung klarer Vorgaben) nach sich. Aufgrund der offenkundigen Untätigkeit - im Ministerium sah man wohl keinen dringenden Handlungsbedarf und/oder hatte andere Prioritäten gesetzt - sahen sich die Spitzenverbände gezwungen, am 8.12.98 diesbezüglich Klage beim VG Düsseldorf zu erheben. Zudem wurde am 27.5.99 eine gemeinsame Kommission (KIRU) mit je 6 Mitgliedern aus beiden Spitzenverbänden gebildet, die dem Staat als Ansprechpartner in allen Fragen des IRU zur Verfügung stehen soll. [6]

Eine der Situation in NRW vergleichbare Debatte löste das Berliner Urteil vom 4.11.1998 zugunsten der Islamischen Föderation in Berlin aus, die - erstmalig - als islamische Religionsgemeinschaft anerkannt wurde, was ihr konkret das Recht zur Durchführung eines IRU - entsprechend dem Berliner Modell - verleiht.

Auch in Hessen gibt es ähnliche Auseinandersetzungen im Kontext der Verhandlungen mit der IRH (Islamische Religionsgemeinschaft Hessen) - einem Zusammenschluß Hessischer Muslime unterschiedlicher Herkunft, Ausrichtung und Dachverbandszugehörigkeit -, die dem dortigen Kultusministerium als Ansprechpartner gegenübersteht und inzwischen vom Verwaltungsgericht Darmstadt mit Urteil vom 9.9.1999 als Glaubensgemeinschaft anerkannt wurde. [7]

Die Beispiele aus den verschiedenen Bundesländern zeigen, daß von muslimischer Seite unterschiedliche Vorgehensweisen gewählt werden müssen, um den durch GG und Länderverfassungen sowie das Schulrecht gegebenen Rahmenbedingungen jeweils gerecht zu werden. Sie zeigen auch, daß Muslime die demokratischen und rechtsstaatlichen Spielregeln hinreichend verstanden haben, um ihre Pflichten in diesem Kontext zu kennen und zu übernehmen. Allerdings ziehen diese internen Prozesse der Organisierung (in großen nicht-nationalen Spitzenverbänden), der Einigung und Formulierung von Glaubensgrundlagen (in gemeinsamen Konsenspapieren über die Grundsätze des Islam) und der Verhandlungsbereitschaft für eine im Sinne des deutschen Rechtssystems gefundene Lösung nicht notwendig die Gewährung von Rechten nach sich.

3. Wie gehen deutsche Behörden mit diesen Anliegen um?

Im demokratischen Rechtsstaat wäre eine kompetente und solidarische Unterstützung von Seiten staatlicher Instanzen bei der Umsetzung der rechtlichen Vorgaben in die Schulpraxis sicher die angemessene Reaktion, um die historisch in Verhandlungen mit den christlichen Kirchen getroffenen Regelungen kompatibel zu machen für andere Bekenntnisse und Religionsgemeinschaften, nicht zuletzt, um den Geist des Grundgesetzes zu erfüllen. Was 1919 in der Weimarer Reichsverfassung auf die Beziehung zwischen christlichen Kirchen und dem konfessionell neutralen Staat zugeschnitten geregelt wurde (z.B. die den Kirchen verliehenen Körperschaftsrechte, an die jedoch das Recht auf Erteilung von Religionsunterricht nicht notwendig gebunden ist!), ist einerseits offen genug für die Übertragung auf weitere anerkannte Religionsgemeinschaften im Staate (jüdische, russisch-orthodox, griechisch-orthodox, mennonitisch usf.). Andererseits muß sich dieses Recht nun bewähren in einer faktischen Einwanderungsgesellschaft, auch wenn die heute relevanten religiösen Minderheiten damals nicht an den Grundsatzverhandlungen beteiligt waren.

4. Welche Vorschläge stehen öffentlich zur Diskussion?

Anstelle der gebotenen Unterstützung sind Muslime jedoch mit vielfältigen Vermeidungs- und Verzögerungskonzepten konfrontiert - sei es in der direkten Auseinandersetzung mit den zuständigen Behörden oder in der öffentlichen Debatte durch kritische bis ablehnende Positionen unterschiedlicher politischer Funktionsträger und gesellschaftlicher Gruppierungen. Hinzu kommt, daß die derzeit in Deutschland vorhandenen Unterrichtsangebote für muslimische SchülerInnen in keinem Fall den grundgesetzlich fixierten Vorgaben bzw. einem ordentlichen IRU entsprechen:

·  Es gibt das Modell des sogenannten "Konsulatsunterrichts" (z.B. in Baden-Württemberg, Berlin, Saarland, Schleswig-Holstein), d.h. Inhalte und Auswahl des Lehrpersonals werden dem türkischen Staat über seine Konsulate überlassen. Allein schon aufgrund sprachlicher Hürden ist dieser Unterricht i.d.R. für die deutsche Schulaufsicht nicht transparent. Zudem ist dieses Angebot eher türkisch-laizistisch ausgerichtet als islamisch, anderssprachige SchülerInnen gehören gar nicht erst zur Zielgruppe. Das Modell ist allein schon problematisch, weil die Einmischung eines anderen Staates in die Bildungspolitik unseres Landes billigend in Kauf genommen wird, anstatt die inländischen relevanten islamischen Gruppierungen an der Konzeption und Durchführung zu beteiligen. Nachvollziehbar wird diese Praxis jedoch, soweit der IRU bzw. eine entsprechende Unterweisung weiterhin als Ausländerfrage bzw. als türkische Frage und als "Gastarbeiterproblem" verstanden wird.

·  Ein weiteres Modell ist die staatlich konzipierte "religiöse Unterweisung muslimischer Schüler im Rahmen des Muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts (MEU)" in Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Hier ist die jeweilige Kultusbehörde für die Inhalte und die Fortbildung der Lehrkräfte verantwortlich; ausgewählte Muslime in Deutschland sowie islamische Theologen in der Türkei und in Ägypten wurden hinzu gezogen, nicht jedoch islamische Verbände in der Bundesrepublik. Die verwendeten Curricula wurden vom Landesinstitut für Schule und Weiterbildung in Soest entwickelt und trotz massiver und mehrfacher Kritik von Seiten islamischer Dachverbände [8] beibehalten und von weiteren Bundesländern übernommen. Selbst ein verantwortlicher Mitarbeiter des Landesinstituts mußte bei einer Fachtagung öffentlich zugeben, daß sich diese derzeitige Praxis der sogenannten religiösen Unterweisung in einer juristischen Grauzone abspielt und wohlweislich nicht als ordentlicher IRU bezeichnet werden kann.

·  Mit dem Schuljahr 1999/2000 wurde in NRW im Schulversuch die sogenannte "Islamkunde" an 37 Schulen des Landes eingeführt. [9] Dabei handelt es sich um ein religionskundliches jedoch bekenntnisfreies Angebot: zwar in deutscher Sprache, also für muslimische SchülerInnen aller Sprachen zugänglich, allerdings ebenfalls in staatlicher Verantwortung, d.h. ohne die gebotene Mitwirkung bzw. Hauptverantwortlichkeit der islamischen Religionsgemeinschaft. Im Vorfeld dieses Schulversuchs wurden diverse gesellschaftliche Gruppierungen um Stellungnahmen zum geplanten Unterrichtsangebot gebeten (so z.B. der Rat der EKD, die Deutsche Bischofskonferenz, die Gewerkschaften, die IHK, der Deutsche Städtetag, die Ausländerbeiräte und ihre Kommissionen) - die islamischen Spitzenverbände jedoch wurden gar nicht erst unterrichtet. Kultusministerin Gabriele Behler will sich in Bezug auf die Lehrpläne auf die in Soest entwickelten und von vielen Muslimen kritisierten Materialien stützen, die dem neuen Fach entsprechend angepasst werden sollen.

 

Neben den bereits praktizierten Varianten von Unterrichtsangeboten werden noch weitere Modelle in die grundsätzliche Debatte über konfessionellen Unterricht eingebracht - teilweise betreffen die Konsequenzen nicht nur den IRU, sondern alle Religionsgemeinschaften, deren Einfluß auf den Bereich der öffentlichen Bildung offensichtlich reduziert bzw. kontrolliert werden soll.

·  Modell überkonfessioneller Unterricht wie z.B. LER (Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde) in Brandenburg: hier unterrichten staatliche LehrerInnen in Kooperation mit den verschiedenen Vertretern der Religionsgemeinschaften, die für korrekte Informationen in Bezug auf die jeweils eigene Religion herangezogen werden. Allerdings bildet die Information über verschiedene Weltreligionen nur einen Teil des Unterrichts, der vom Selbstverständnis her eindeutig a-konfessionell einzuordnen ist. [10]

·  Modell des Zentrums für Türkeistudien [11]: an die Stelle des ordentlichen IRU, der als nicht umsetzbar gilt, soll eine islamische Religionskunde in deutscher Sprache treten. Sie wird verantwortet durch ein Gremium, das aus je 7 Vertretern der deutschen Behörden, der Herkunftsländer sowie diverser Einwandererorganisationen (z.B. der Rat der türkischen Staatsbürger, die Türkische Gemeinde) besteht. Ausdrücklich wird betont, daß man sich nicht am christlichen Religionsunterricht orientieren wolle, sondern an "beschreibender Religionskunde wie in der Türkei" (FAZ, 5.2.99). An der Konzeption des Unterrichts sollen trotz großer Unterschiede in den Glaubensgrundsätzen Sunniten wie Aleviten beteiligt werden.

·  Multireligiöser Unterricht wie z.B. das Modell Hamburg oder das in Großbritannien initiierte multi-faith-program: während sich in Hamburg das aus historischen Gründen vormals rein evangelische Angebot für die Zusammenarbeit mit anderen Konfessionen geöffnet hat, die an einem gemeinsamen "runden Tisch" Impulse für das multireligiöse Curriculum geben, geht das britische multi-faith-program direkt von der Pluralität religiöser Bekenntnisse in Schule und Gesellschaft aus, über die im Unterricht parallel informiert und diskutiert werden soll. Es handelt sich auch hierbei um ein multireligiöses Angebot ohne religiöse Praxis und Kontur, was sich als nicht unproblematisch herausgestellt hat, u. a. weil die von den Lehrern geforderte weltanschaulich-religiöse Neutralität pädagogisch negative Effekte hat: kritisch-konfessorische Auseinandersetzung und das "Sich-Reiben" an den Überzeugungen des Gegenübers im ebenbürtigen Diskurs schult besser und klärt die jeweils eigene Positionen effektiver als multikulturelle Beliebigkeit des Vorgestellten ohne Vermittlung eines nachvollziehbaren Maßstabs für die Entscheidung.

Bei all diesen sogenannten bekenntnisfreien Unterrichtsangeboten stellt sich die Frage, wo das Lehrpersonal einzuordnen ist: welches Bekenntnis dürfen oder sollen LehrerInnen haben? Je nach Zielsetzung des Unterrichts kann das jeweilige Bekenntnis des Lehrpersonals durchaus kontraproduktiv wirken: Können bekennende ReligionsgegnerInnen sachgerecht und angemessen über den Islam informieren? Soll man Atheisten die Vermittlung von Religion(en) überlassen? Derartige Schwierigkeiten kann nur nachvollziehen, wer von der grundsätzlichen pädagogischen und bildungspolitischen Bedeutung des ordentlichen Religionsunterrichts unterschiedlicher Konfessionen im Unterrichtskanon überzeugt ist. Wer jedoch der Meinung ist, daß Religiosität und Bekenntnis ohnehin nichts an den öffentlichen Schulen zu suchen haben, wird religionskritisches oder a-religiöses Lehrpersonal für die beste Lösung halten.

Indem die bekenntnisfreien Modelle in die Debatte gebracht werden, wird die berechtigte Forderung der Muslime in Deutschland abgelenkt durch die Verlagerung auf die ebenso wichtige gesellschaftliche Entscheidung darüber, ob es überhaupt noch einen Bekenntnisunterricht geben solle oder andere Modelle der Vermittlung von Ethik und Moral für den säkularen Staat und die zunehmend nicht mehr konfessionell gebundenen Bevölkerungsanteile angemessener seien.

Was bei der Auseinandersetzung über das "richtigere" Modell und die Festlegung der Rolle von Religion(en) in Gesellschaft und Schule oft vernachlässigt wird, ist die Tatsache, daß alle Varianten auf unterschiedlichen juristischen Grundlagen beruhen - z.T. ist für ihre endgültige Umsetzung eine Änderung des Grundgesetzes vonnöten - und selbst, wenn die Bezeichnungen ähnlich klingen, formell gravierende Unterschiede in Bezug auf Verfahren, Unterrichtsinhalte und -ziele etc. bestehen, über die aufzuklären unverzichtbare Voraussetzung jeder demokratischen Entscheidung sein müßte.

 

Im Interesse einer aufrichtigen und ernsthaften Auseinandersetzung über die Modalitäten der Einführung eines IRU als ordentliches Fach an öffentlichen Schulen sollte die jeweilige Bedeutung und Konsequenz der verschiedenen Formulierungen allen an der Debatte beteiligten, insbesondere den betroffenen Muslimen, klar sein.

Während z.B. im Türkischen nur ein Begriff existiert, der Religionsuntericht/Religionskunde gemeinsam bezeichnet, besteht im Deutschen ein juristisch relevanter Unterschied zwischen dem verfassungsrechtlich vorgegebenen und in Absprache mit der Religionsgemeinschaft erteilten Religionsunterricht einerseits und einer sogenannten Religionskunde andererseits, die unabhängig von der Religionsgemeinschaft - quasi aus der Distanz heraus - Information und Wissen über islamische Kultur und (religiöse) Traditionen vermittelt, wobei es in Bezug auf die unterrichtenden LehrerInnen unerheblich ist, ob sie bekennende MuslimInnen sind, ob sie das Vertrauen der islamischen Religionsgemeinschaft besitzen, also analog zur christlichen Missio oder Vocatio eine Lehrbefugnis erhalten oder nicht. Dieser feine, aber wesentliche Unterschied wird von manchen Muslimen nicht bemerkt oder unterschätzt. Ihnen fällt nur (überrascht/angenehm) auf, daß der Islam irgendwie (!?) in deutschen Schulen thematisiert wird.

Den Gegnern eines ordentlichen IRU kommt diese Begriffsverwirrung auf Seiten einiger muslimischer Gesprächspartner zumindest gelegen - jedenfalls wird wenig Mühe darauf verwendet, die Begrifflichkeiten und unterschiedlichen Konsequenzen der kursierenden Modelle sauber auseinander zu halten: Wenn einige Vertreter islamischer Verbände und andere Muslime bereits mit einer sogenannten "bekenntnisfreien" Islamkunde zufrieden zu stellen sein sollten, die faktisch unter Umgehung der islamischen Religionsgemeinschaft konzipiert und eingeführt wurde, dann braucht wohl über die ursprünglich geforderte Gleichstellung der Religionsgemeinschaften nicht mehr verhandelt zu werden. [12]

5. Welche "Knackpunkte" blockieren den Einigungsprozeß?

Trotz der vielfältigen Bemühungen und integrationsfördernden Entwicklungen auf muslimischer Seite wird die Einführung des IRU verzögert und/oder behindert, werden Anträge auf die lange Bank geschoben und wiederholt umfangreiche Vorstudien finanziert, um die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit der jeweiligen Antragsteller zu überprüfen. [13] Dabei entsteht der Eindruck, daß die tatsächliche Entwicklung der islamischen community in Deutschland - Zusammenschluß in multinationalen Spitzenverbänden als deutsche Interessensvertretung, eindeutiges Bekenntnis zum Grundgesetz, Herausbildung einer Identität als muslimisch-deutsche StaatsbürgerInnen - offensichtlich von der Mehrheitsgesellschaft nicht als hinreichend tragfähig eingeschätzt wird.

Anders lassen sich die immer wieder vorgebrachten Argumente und Ausgrenzungspraktiken kaum erklären, mit denen ein Fortschritt in der Debatte systematisch aufgehalten wird. Einige der gängigen Strategien sollen im folgenden erwähnt werden:

  •   Fehlt ein verbindlicher Ansprechpartner?

Trotz der Konzentration vielfältiger islamischer Gemeinden auf mittlerweile drei große Spitzenverbände, die zudem in allen wichtigen Fragen kooperieren, wird fortgesetzt das Fehlen eines verbindlichen Ansprechpartners auf islamischer Seite beklagt. Gelegentlich wird sogar von den Muslimen in Deutschland gefordert, eine gemeinsame Autorität in theologischen Fragen zu präsentieren - wohl inAnlehnung an das katholische Modell mit dem Papst als Oberhaupt der Kirche. Einerseits wird das Fehlen kirchenähnlicher Strukturen beklagt, zugleich wird jedoch oft zugestanden, daß diese Forderung dem Wesen des Islam nicht entspreche, es aber leichter und vertrauter für die Verhandlungen wäre etc. In Bezug auf die bisherigen Verhandlungen mit christlichen unterschiedlichen Bekenntnissen scheint die Vielfalt jedoch kein Problem darzustellen: so hätte z.B. niemand von christlich-orthodoxen oder mennonitischen Gemeinden verlangt, sich mit der katholischen bzw. der evangelischen Religionsgemeinschaft zu vereinen.

  •   Wer macht wen zum "Fundamentalisten"?

Immer wieder wird die Gefahr "fundamentalischer Einflüsse" beschworen, wobei die nicht-muslimische Seite einseitig festlegt, was unter "Fundamentalismus" zu verstehen sei und wer aus dieser Sicht der herrschenden Definition den möglichst auszugrenzenden Positionen zuzuordnen ist. Bestimmte Inhalte religiöser Überzeugungen und Formen religiös begründeter Lebenspraxis fallen von vornherein aus dem Rahmen der tolerablen Religionsfreiheit mit dem Recht auf Gleichberechtigung heraus: so wird z.B. regelmäßig die grundsätzliche und von allen islamisch-theologischen Autoritäten bestätigte Pflicht der Bekleidungsvorschriften bezweifelt. Eigene Interpretationen oder randständige Positionen kritisch-liberaler Muslime liefern dann die Grundlage dafür, ein renitentes Festhalten an islamischen Bekleidungsvorschriften als Ausdruck "fundamentalistischer" Gesinnung und damit als bekämpfenswerte Indoktrination auszugrenzen. Aus dieser Sicht gibt es "falsche" bzw. "richtige" Muslime/Organisationen: je kompatibler ihr Verständnis von Islam in Bezug auf westliche Vorstellungen von Bekleidung, Freizeitgestaltung, Geschlechterbeziehungen, Erziehungsfragen etc. ist, desto weniger werden sie als "fundamentalistisch" eingeschätzt, desto entgegenkommender ist die Mehrheitsgesellschaft. Die tatsächlichen Glaubensgrundsätze, die - so steht es zumindest im Grundgesetz - eigentlich nur von der Religionsgemeinschaft selbst festgelegt werden können, treten in dieser Debatte völlig in den Hintergrund [14]: Was Islam hier in Deutschland sein darf, was als verbindliche Lehrinhalte weitergegeben werden soll, legt die Mehrheit für die Minderheit unter Berufung auf vermeintliche "fundamentalistische" Gefahren fest, statt ihrer Aufgabe nachzukommen, die rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen durchzusetzen und deren Einhaltung wie bei allen anderen gesellschaftlichen Gruppierungen auch zu überprüfen, um im begründeten konkreten Fall verfassungswidriger Inhalte und Aktivitäten tätig zu werden.

  •   Zuviel Bindung an die Herkunftsstaaten?

Im Zusammenhang mit dem Fundamentalismus-Verdacht steht die Befürchtung, die in Deutschland aktiven islamischen Verbände und Gemeinden hätten noch zuviel Bindung an ihre Herkunftsstaaten. Würden sie an der Umsetzung des IRU beteiligt, so nähmen die Herkunftsländer - über ihre jeweils sympathisierenden Verbände - Einflußmöglichkeiten auf die deutsche Schullandschaft und Integrationspolitik wahr. Diese Befürchtung kann durchaus nachvollzogen werden, soweit die Frage des IRU weiterhin als "Ausländerfrage" verhandelt wird. Eine Klärung der rechtlichen Bedingungen von Zuwanderung (sicherer Aufenthaltsstatus, erleichterte Einbürgerungsmöglichkeiten, doppelte Staatsbürgerschaft etc.) könnte jedoch der tatsächlichen Entwicklung Rechnung tragen: für die meisten hier lebenden muslimischen Familien ist Deutschland inzwischen der Lebensmittelpunkt, die wichtigsten Lebensentscheidungen werden hier gefällt (Ausbildung, Erwerbstätigkeit, prägende Jahre der Erziehung). Nicht zuletzt aus diesem Grund hat sich die Vielzahl unterschiedlicher Gemeinden in zwei großen unabhängigen Spitzenverbänden zusammen geschlossen, die das Zentrum ihrer Aktivitäten in dieser Gesellschaft sehen und als inländischer Gesprächspartner für Fragen des interreligiösen Zusammenlebens zur Verfügung stehen. [15] Diese innerislamische Kooperation der in Deutschland lebenden Muslime reicht jedoch auch nicht aus. Es liegt die Vermutung nahe, daß erst die Absage an westlichen Diskutanten nicht genehme Glaubensinhalte den erhofften Durchbruch bringen könnte - eine inakzeptable und keinesfalls durch die Verfassung gedeckte Vorstellung von Gleichstellung der Religionsgemeinschaften.

  •   Gibt es integrationshemmende Glaubensinhalte?

Einzelne Glaubensinhalte werden in öffentlichen Auseinandersetzungen als "fundamentalistisch", undemokratisch und nicht mit dem Grundgesetz vereinbar hervor gehoben: dazu gehört die bereits erwähnte Kopftuchfrage im Islam, mangelnde Trennung zwischen Religion und Staat, das Zeugnis- und das Erbrecht, das grundsätzliche Recht des muslimischen Mannes auf bis zu vier Ehefrauen etc. Obwohl diese islamischen Grundsätze für die alltägliche Lebenspraxis im multireligiösen Rechtsstaat kein Problem darstellen, da die deutsche Rechtsordnung als verbindlicher gemeinsamer Rahmen des Zusammenlebens akzeptiert ist, wird die Unterrichtung dieser für die islamische Religionsgemeinschaft verbindlichen Glaubensinhalte im Rahmen des IRU als integrationshemmend angesehen. Muslime, die so etwas glauben und auch noch an Kinder weitergeben wollen, sind dann wohl noch nicht so weit, daß sie an der Unterrichtsgestaltung und -konzeption mitwirken dürften. Das Recht auf Glaubensfreiheit wird hier unrechtmäßig eingeschränkt.

  •   Verfolgen die Antragsteller undemokratische Ziele?

Antragstellern wie z.B. der Islamischen Föderation Berlin, der IRH in Hessen, einzelnen Mitgliedsorganisationen aus ZMD und Islamrat werden undemokratische Ziele unterstellt. Mit Verweis auf Kontakte zu vom Verfassungsschutz beobachteten Organisationen bzw. auf in den Verfassungsschutzberichten erwähnte Gruppen wird die Grenze zwischen akzeptablen und inakzeptablen Gesprächspartnern gezogen. Interessanterweise haben die kritisierten Zusammenhänge z.B. in Bezug auf die Islamische Föderation in Berlin bei der vorausgehenden Bewilligung ihrer islamischen Privatschule offensichtlich keine Rolle gespielt. [16] Da die unterstellten verfassungsfeindlichen Ziele in der Regel in Formulierungen vorgebracht werden, die auf Vermutungen, Befürchtungen, Ungewißheit basieren und der - dennoch wirksame - Generalvorwurf selten konkretisiert und belegt wird - sonst könnte er ja ausgeräumt werden (!) - wirkt der Verweis auf den Verfassungsschutz wie eine unüberwindbare Schranke, die nicht mehr hinterfragt werden muß. Der Islam als solcher steht hier als Konfession unter Verdacht, wenn immer wieder die vermeintliche Inkompatibilität von Islam und Grundgesetz bemüht wird. [17] Selbst die öffentlich bekundete Anerkennung von Grundgesetz und Verfassungen durch islamische Organisationen genügt den Verantwortlichen nicht: teilweise geht die Begründung der Ablehnung bis zur Unterstellung von Heuchelei und schönfärberischer Taktik. [18]

  •   Ist IRU ein Ausländer- oder Türkenproblem?

Die Frage der Einführung eines IRU wird als "Ausländerproblem" bzw. als "Türkenproblem" behandelt, das in Absprache mit den jeweiligen Herkunftsländern der muslimischen MigrantInnen gelöst werden sollte. Diese Sichtweise liegt z.B. im Interesse von DITIB, da dieser Dachverband als verlängerter Arm des Amtes für religiöse Angelegenheiten in der Türkei gesehen werden kann. Die logische Konsequenz eines solchen Standpunktes ist - neben der geforderten Zustimmung von DITIB für das letztlich genehmigte Modell - die vorrangige Zusammenarbeit mit Ausländerorganisationen in Deutschland. So werden die Meinungsäußerungen migrationspolitischer Organisationen wie der Landesarbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte in NRW (LAGA), der türkischen Gemeinde, anderer türkischer Verbände, oder von Forschungseinrichtungen im Arbeitsfeld Migration wie dem Zentrum für Türkeistudien (ZfT), dem Deutschen Orientinstitut, dem Landeszentrum für Zuwanderung in Solingen usf. als wichtige diskussionswürdige Beiträge zur Debatte anerkannt, während der in Bezug auf den IRU erste Gesprächspartner - die islamische Religionsgemeinschaft - kaum beachtet bzw. systematisch ausgegrenzt wird. Da es jedoch um die Verhandlungen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und einer religiösen Minderheit geht, sollten die demokratisch gesetzten Spielregeln in Bezug auf bildungspolitische und religionspolitische Entscheidungsprozesse eingehalten werden.

  •   Wer darf mitreden?

Alle möglichen Institutionen und Personen, die meinen, etwas zum IRU äußern zu wollen, werden in die Debatte einbezogen, wobei die Gewichtung der einzelnen Beiträge im politischen Entscheidungsprozeß nicht immer sachlich begründet ist. So haben sich neben den bereits erwähnten migrationspolitischen Organisationen und den Forschungseinrichtungen auch christliche Institutionen und ihre Vertreter (EKD und Deutsche Bischofskonferenz) geäußert, andere gesellschaftspolitische Organisationen wie die GEW, die IHK, der Deutsche Städtetag, die Parteien und ihre Vertreter werden gern um Rat gefragt. Es ist die Rede von "runden Tischen" zur Konzeption und Verantwortung des IRU (z.B. in der Stellungnahme des ZfT zum IRU), an denen alle am Thema Interessierten teilnehmen könnten (!). Einzelne "Gewährsleute" (LehrerInnen des MEU; Faruk Sen, Leiter des ZfT, Bassam Tibi als sog. Islam-Experte - allerdings weder Islamwissenschaftler noch islamischer Theologe; und andere als islamische Stimme identifizierte gebürtige Muslime) werden zu ihren Wünschen in Bezug auf die Einführung des IRU befragt: ihre - individuellen - Einschätzungen zu Glaubensinhalten und Glaubenspraxis, zu didaktischen Fragen der Vermittlung von Religion erhalten den Rang verbindlicher Rechtsauslegungen. Eher selten werden organisierte, praktizierende MuslimInnen, betroffene Eltern oder Vertreter der islamischen Verbände (ZMD- Vorsitzender Nadeem Elyas, Islamrat-Vorsitzender Hasan Özdogan, IRH-Vorsitzender Amir Zaidan, Rechtsgelehrte und Imame) um Stellungnahmen gebeten. D.h.: Nicht-Muslime oder islamkritische Stimmen bzw. Positionen mit großer Distanz zur eigenen Religion dominieren die Auseinandersetzung über die Gewährung des Grundrechts einer religiösen Minderheit, während die Betroffenen mit Hilfe unterschiedlicher Strategien außen vor gehalten werden. Man stelle sich vor, der katholische Lehrplan und die Glaubenssätze würden in erster Linie von Abtrünnigen, Zweiflern an der katholischen Lehre und Atheisten formuliert werden.

  •   Ist die Ausbildung der Lehrkräfte ein Problem?

Die Frage der LehrerInnenausbildung gilt als ungeklärt, finanziell zu aufwendig etc. Hier droht ein einzelnes Umsetzungsproblem das ganze eigentlich berechtigte Anliegen zu kippen: Sinnvollerweise sollte die Ausbildung islamischer ReligionslehrerInnen an deutschen Hochschulen stattfinden; hier sind auch Kooperationen mit christlichen Religionspädagogen möglich. Da die Fächer islamische Theologie und islamische Religionspädagogik als Ergänzung der Lehramtsstudiengänge noch nicht etabliert sind, ist nicht geklärt, mit welchen LehrerInnen gearbeitet werden kann. Hier schlagen die Muslime selbst eine Übergangslösung vor, die sich an die Praxis der evangelischen und katholischen Unterrichtskräfte der Nachkriegszeit anlehnt: Bis die ersten Absolventen mit akademischem Abschluß zur Verfügung standen, wurden sogenannte LaienlehrerInnen eingesetzt, die jedoch das Vertrauen der Religionsgemeinschaften besaßen.

  •   Wer repräsentiert Muslime in Deutschland?

Die mangelnde Repräsentanz aller MuslimInnen in Deutschland wird beklagt: weder seien alle einzeln organisiert, noch seien alle Splittergruppen mit an der Gestaltung des IRU beteiligt. Insbesondere Aleviten und Ahmadiyas sollen mit an den Tisch; wenn mit ihnen die inhaltliche Einigung erreicht sei, könnten die Verhandlungen beginnen. Diese Forderung nach Vereinigung völlig unterschiedlicher Bekenntnisse mit jeweils eigenem Anspruch auf ordentlichen Religionsunterricht ignoriert erstens z.b. den Antrag der Alevitischen Gemeinde auf Anerkennung als eigenständige Religionsgemeinschaft in NRW, da wesentliche Unterschiede in Bezug auf die Glaubensgrundlagen bestehen (z.B. der alevitische Verzicht auf die Pflicht zum fünfmaligen Gebet sowie auf die Pflicht zum Fasten im Ramadan), die ein von beiden Religionsgemeinschaften getragenes Curriculum unmöglich machen. Zweitens wurde die Gemeinschaft der Ahmadiyya nach Prüfung ihrer Glaubensgrundsätze 1974 vom Islamischen Weltkongreß aus der Gemeinschaft der Muslime ausgeschlossen, da sie wesentliche Grundsätze des Islam nicht teilen. [19]
Was nun die Mitgliedschaft aller Gläubigen betrifft, so wird diese Forderung z.B. in Bezug auf die christlichen Bekenntnisse nicht erhoben. Auch die zur Durchführung konfessionellen Unterrichts befugten christlichen Kirchen repräsentieren keineswegs alle Christen, vielmehr werden von christlicher Seite sinkende Mitgliederzahlen beklagt, die allerdings nicht das Recht der Kirchen auf konfessionellen Unterricht in Frage stellen. Es ist eher anzunehmen, daß auch unorganisierte Muslime Interesse an gleichberechtigter Glaubensvermittlung haben und ihre Kinder zu einem ordentlichen IRU anmelden werden, selbst wenn sie sich bisher nicht individuell in einem Verband engagiert haben. Das gleiche gilt übrigens auch für viele DITIB-Angehörige.

  •   Brauchen wir einen "deutschen Islam"?

Die Umsetzung des IRU ist häufig gekoppelt an die Forderung nach der Entwicklung eines "deutschen Islam" bzw. eines "Euro-Islam" (als Begriff von Bassam Tibi in die Debatte gebracht), mit dem dann verhandelt werden könnte. Hier besteht die Gefahr, daß die in der deutschen Gesellschaft akzeptablen islamischen Inhalte einseitig von Nicht-Muslimen bzw. islam-kritischen Muslimen festgelegt werden: es wird ein Islam zurecht gebastelt, der handhabbar scheint - vielleicht entspricht dies der von Annette Schavan eingebrachten Vorstellung von "Domestizierung" des Islam. Der tatsächlich in unserer Gesellschaft von vielen gelebte und gewünschte Islam jedoch scheint das westlich-abendländische Bekenntnis der Mehrheitsgesellschaft zu überfordern bzw. zu durchkreuzen.

6. Warum funktionieren derartige ausgrenzende Umgangsformen?

Außenstehende BeobachterInnen können sich nun fragen, warum in der öffentlichen Debatte von den rechtlichen Voraussetzungen und dem Grundrecht auf Glaubensfreiheit so schnell abgelenkt wird auf Nebengleise. Wieso ist das Grundgesetz im Fall der Muslime so schwierig umzusetzen?

Der Erfahrungsraum, in dem man sich bisher in Deutschland mit den Grundrechten und der Glaubensfreiheit von Religionsgemeinschaften befaßte, bezog sich auf christliche Kirchen; die geltenden Vereinbarungen und Verfahrensregelungen wurden mit ihnen gefunden und bisher auch überwiegend mit ihnen in die Praxis umgesetzt. Keine andere Religionsgemeinschaft mit relevantem Bevölkerungsanteil hat bisher vergleichbare Forderungen gestellt. Die Glaubensfreiheit der jüdischen Religionsgemeinschaft ist gewährleistet (Anerkennung als Körperschaft, Recht auf eigene Schulen und jüdischen Unterricht), wobei die Auswirkungen in der Praxis nicht viele Schulen betreffen. Im Fall der muslimischen SchülerInnen erfordert die Umsetzung des gleichen Rechts in die Praxis erheblichen finanziellen Aufwand (Lehreraus- und -fortbildung, Lehrmaterialien, Räume, Unterrichtsplanung etc.).

Wenn das gleiche Recht in der Öffentlichkeit stärker betont würde, wäre viel schwerer nachvollziehbar, warum seine Umsetzung bis heute nicht gelingt. Das Verfahren ist klar, dies hat nicht zuletzt das für die deutsche Öffentlichkeit unerwartete Urteil des OVG in Berlin gezeigt. Seitdem steht die Senatsverwaltung mächtig unter Zugzwang: Einmal in Gang gesetzt, kann die Einführung des IRU in Berlin durch die Islamische Föderation als anerkannter Ansprechpartnerin für den IRU nur noch im Laufe des Verfahrens gestoppt werden, nicht mehr durch Umgehung des Verfahrens. Die Urteilsbegründung in Berlin hat deutlich gemacht, daß die bisherigen Vermeidungsstrategien der Verwaltung nicht mehr funktionieren. [20]

Eine wichtige Rolle bei der kontinuierlichen Verzögerung der muslimischen Forderung nach IRU spielen die sogenannten ExpertInnen, die in den Medien meinungsbildend und -stabilisierend wirken. Die Berufung auf "Kulturmuslime" (geborene Muslime mit "aufgeklärter" Distanz zu Religion und individuell liberaler Lebensgestaltung in freier Interpretation der islamischen Quellen), oder auf teils muslimische Experten aus Orientalistik, Islamwissenschaft, Sozialwissenschaften etc. steigert die Akzeptanz der einseitigen kritisch-ablehnenden Sicht auf den orthodoxen Islam. Gemeinsam ist den meisten Experten, daß sie nur äußerst selten bekennende und praktizierende Muslime, meistens eher anderskonfessionell oder a-religiös eingestellt sind, oder aber in ihrer Herkunftsgesellschaft bzw. innerhalb der islamischen community relativ randständige und umstrittene Positionen vertreten. Ihr Expertenstatus ist eindeutig an ihre westlich-kompatiblen Positionen gekoppelt; ihre Einschätzungen sind aus der Sicht der deutschen Mehrheitsgesellschaft plausibel, stabilisieren das westlich-abendländische Selbstverständnis, und legitimieren Vorsicht und Mißtrauen gegenüber islamischen Forderungen nach Partizipation und Gleichbehandlung. So werden z.B. Türken oder andere Migranten aus überwiegend islamisch geprägten Herkunftsländern häufig allein auf Grund ihrer Herkunft als "quasi-natürliche" Experten in Bezug auf Islam und IRU gehandelt, ihre tatsächliche Kompetenz und Qualifikation braucht nicht erst überprüft zu werden. JournalistInnen und verantwortlichen RedakteurInnen ist hier die Frage zu stellen, ob sie sich auch bei anderen brisanten und umstrittenen Themen leisten könnten, derartig unprofessionell zu arbeiten und zu recherchieren.

Aus dem Diskurs über Islam und über Muslime in unserer Gesellschaft läßt sich das westlich-abendländische Selbstverständnis (christliche Basis; Aufklärung, Säkularismus) deutlich ablesen: sein Bekenntnischarakter wird offensichtlich. Auf dieser Grundlage wird diskursiv festgelegt, wer zur westlichen Zivilisation gehört und entsprechend wird eine Hierarchie des Zugangs und der Rechte in der Einwanderungsgesellschaft legitimiert. Als Schlußfolgerung dieser Hierarchie ist festzuhalten, daß das Grundgesetz offenbar nicht für alle in gleicher Weise gilt, sondern die Gewährung ebenbürtiger Rechte an Bekenntnisse gebunden zu sein scheint: zum Abendland, zu westlichen Werten, zu einer bestimmten Organisationsform der Religionsgemeinschaft, nämlich eben doch kirchenähnlich etc.

7. Warum sucht der Staat nicht das Gespräch mit den islamischen Spitzenverbänden?

Es stellt sich die Frage, warum der Staat und die jeweiligen Kultusbehörden nicht erst einmal das Gespräch mit islamischen Verbänden suchen, sich an einen Tisch setzen, auch wenn es mit zwei Organisationen ist (die christlichen Kirchen wurden ja auch nicht kurzerhand in ein gemeinsames christliches Bekenntnis zusammengefaßt trotz umfassender Übereinstimmungen in wesentlichen Fragen des Glaubens, v.a. in Abgrenzung zu anderen Religionsgemeinschaften), und von diesen Organisationen z.B. einen fixierten Konsens in Bezug auf die Grundlagen des Glaubens verlangen. Dieser Konsens in Glaubensfragen kann ja - und dies meint Glaubensfreiheit und konfessionelle Neutralität des Staates wohl tatsächlich - nur von den Religionsgemeinschaften formuliert und gefunden werden. An der Formulierung christlicher Glaubensgrundsätze haben ja auch nicht alle möglichen Interessensgruppen und Vereine mitgewirkt, selbst wenn diese auch berechtigte Zweifel an der Richtigkeit einzelner christlicher Überzeugungen haben mögen. Und der einmal von der islamischen Religionsgemeinschaft gefundene Konsens darf von niemand Außenstehenden inhaltlich geprüft bzw. in Frage gestellt werden - dies ist nicht Aufgabe des Staates, noch Aufgabe anderer islamkritischer oder sonstiger Organisationen. Wenn muslimische Familien nun diese Überzeugungen teilen und ihre Kinder auch in diesem Sinne unterrichtet wissen wollen, so ist dies ihr gutes Recht, solange der Unterricht in Einklang mit der Verfassung steht. Einzelne Andersgläubigen oder Ungläubigen nicht plausible oder gar absurde Inhalte des Glaubens - die wir wohl gegenseitig in jedem Bekenntnis finden werden - gehören weder zum Einflußbereich des Staates, noch sind sie Sache von Konkurrenzorganisationen.

8. Wo bleiben die betroffenen Eltern?

Die jeweils betroffenen Eltern werden in der ganzen Debatte außen vor gelassen. Das grundsätzliche Recht aller Eltern auf Bestimmung des Religionsunterrichts ihres Kindes bis zur Religionsmündigkeit gilt für muslimische Eltern ebenso wie für alle anderen: man kann seine Kinder an- und wieder abmelden, wenn der Unterricht nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Lediglich in konfessionellen Schulen besteht ein Zwang zur Teilnahme am jeweiligen Unterricht; entsprechende islamische Schulen, gibt es in der Bundesrepublik viel zu wenige. Die laufende Debatte bezieht sich jedoch auf den Unterricht an öffentlichen Schulen. Einerseits soll zwar ein Gegengewicht zu den als besonders integrationshemmend verstandenen Koranschulen angeboten werden. Dabei ist fraglich, ob sich der christliche Religionsunterricht eigentlich ebenfalls als Ersatz für Kommunion- bzw. Konfirmationsunterricht versteht, was meines Wissens nicht der Fall ist. Andererseits scheut man sich vor der Konsequenz dieser Absicht: ein konfessioneller, transparenter Unterricht, in deutscher Sprache, unter deutscher Schulaufsicht, nach Überprüfung der Lehrinhalte könnte eine fundierte Grundlage religiöser Bildung liefern, macht allerdings die geforderte Zusammenarbeit mit praktizierenden MuslimInnen unumgänglich.

Vielen muslimischen Eltern wird unterstellt, die Instrumentalisierung des islamischen Glaubens für politische Zwecke durch einen von einer bestimmten islamischen Organisation verantworteten Unterricht nicht zu durchschauen. Daher müßten Eltern und Kinder vor diesem befürchteten (nicht bewiesenen) Mißbrauch präventiv beschützt werden, indem ein derartiges Angebot gar nicht erst zur Wahl steht. Zugleich betreiben die KritikerInnen eines ordentlichen IRU eine Politik der Sprachverwirrung, indem unterschiedliche Begriffe wie "Islamkunde" "religiöse Unterweisung für Schüler islamischen Glaubens" und Islamunterricht z.T. synonym benutzt werden, wo es im Prinzip um den regulären Islamischen Religionsunterricht geht. Die feinen juristisch relevanten Unterschiede der Begriffe werden bewußt nicht thematisiert, um Eltern zu übermitteln: Euer Islam hat nun zumindest einen Platz an unseren Schulen bekommen, über die Einzelheiten brauchen wir nicht zu verhandeln, Hauptsache, es klingt nach Islam und bildet ein Gegengewicht zu den - teilweise zu Recht kritisierten - Koranschulen. Daß z.T. in den staatlich genehmen Varianten sogenannter "religiöser Unterweisung" nationalistische Inhalte transportiert wurden, die wiederum mit Religion nichts zu tun haben, nahm man billigend in Kauf. Es betraf die Ausländerkinder, es klang unter dem Strich fortschrittlicher als die westliche Einschätzung der religiösen Praxis islamischer Lebensgestaltung.

9. Was bedeutet all dies für die Frage der Integration von Muslimen in unsere Gesellschaft und für die Bedingungen interkulturellen und interreligiösen Zusammenlebens?

Die Realität des Diskurses über den IRU zeigt, wo die Grenzen der Religionsfreiheit in unserer Gesellschaft trotz grundgesetzlich verankerter Rechte liegen: die gesellschaftliche, pädagogische Praxis wird von den Rechtsgrundlagen abgekoppelt, führt eine Art Eigenleben, abgesichert durch ausgrenzende Diskurse, die den Umgang mit Muslimen in Deutschland regeln und den Rahmen für interkulturelle/interreligiöse Erfahrungen abstecken. Einschätzungen wie "fundamentalistisch", mittelalterlich, frauenfeindlich, fanatisch, rückständig, noch zu zivilisieren oder zu "domestizieren" etc. müssen kaum begründet werden, weil die ihnen zugrundeliegenden Bilder bei fast allen am Diskurs Beteiligten jederzeit aufgerufen werden können. Sie entsprechen den gängigen Klischees über den Islam, wie sie insbesondere von den Medien fortgesetzt vermittelt werden. [21]

In diesem Kontext ist es z.B. auch interessant, daß die Berichterstattung über den IRU zwar regelmäßig die rechtlichen Grundlagen referiert, diese Vorgaben aber keinerlei Auswirkungen auf die Einschätzung der muslimischen Forderungen haben, die mit Rückgriff auf bekannte und offensichtlich verankerte Bilder und Vorurteile in Bezug auf den Islam abgewehrt werden können nach dem Motto:"Wehret den Anfängen!" Der Zweck (Verhinderung fundamentalistischer Einflüsse) heiligt in diesem Diskurs die Mittel, selbst wenn es bis zur Beugung von Grundrechten geht. Wichtig ist daher die Frage, welche Begriffe, Positionen, Meinungen gesellschaftlich konsensfähig sind, und sich im Bewußtsein der Bevölkerung wie der Verantwortlichen als einzig vernünftige Sichtweise durchgesetzt haben. Unpassendes und Abweichungen stören diese Ordnung und dürfen auch nicht - Recht hin oder her - ebenbürtig partizipieren. Dies gilt für islamische Elemente, die hiesige Grundbekenntnisse in Frage stellen: z.B. ein islamisch geprägter Lebensstil, Bekleidung, Ernährung, Freizeitgestaltung - und eben auch für den überwiegend als bedrohlich wahrgenommenen IRU, sofern er in der vom Grundgesetz vorgesehenen Form umgesetzt wird. Überwiegender Tenor der öffentlichen Debatten ist die Einschätzung, daß ein ordentlicher IRU weder praktikabel noch wünschenswert sei. Letztlich wird die Kontrolle von Glaubens- und Unterrichtsinhalten durch den Staat bzw. ergänzend durch ein nicht-islamisches Gremium gefordert.

Als Schlußfolgerung bleibt unter diesen Umständen, die angeblich in erster Linie von den Muslimen verschuldet sind, weil der deutsche Staat selbst ja wohlmeinend das grundsätzliche Recht der Glaubensfreiheit gewährt, nur das staatlich konzipierte Unterrichtsangebot übrig als sinnvolle und praktikable Lösung, die die Unterrichtslücke schließt. Der Staat zieht sich auf die mit christlichen Religionsgemeinschaften getroffenen Vereinbarungen und Verfahren zurück und behauptet, nicht anders handeln zu können, da die Vorgaben von der muslimischen Seite nicht erfüllt würden. Deshalb bestehe das grundsätzliche Recht zwar weiter, könne nur nicht von Muslimen in Anspruch genommen werden.

In der Praxis heißt das: Glaubensfreiheit gilt in Deutschland, aber nicht für Muslime, bzw. für Muslime nur unter Bedingungen, bei denen dem Islam fremde Instanzen die Inhalte der Religion, die zu vermittelnden Lehrinhalte sowie den Kreis der akzeptierten GesprächspartnerInnen einseitig festlegen. Dabei überschreiten diese staatlichen und öffentlichen Instanzen eindeutig ihre Kompetenzen.

10. Fazit

Um die Situation der Muslime in Deutschland zu verändern und ebenbürtige und respektvolle Umgangsformen zu verankern bzw. zu stabilisieren, müssen die Entscheidungsprozesse und die Strukturen der Debatte - wie sie z.B. in Bezug auf den IRU funktionieren - zunächst durchschaut werden. Verfassungsmäßige Theorie einerseits und ihre Umsetzung in die gesellschaftliche Praxis in den verschiedenen Lebensbereichen (Schule, Ausbildung, dies gilt in gleicher Weise für die Arbeitswelt, Gemeindearbeit usf. ) andererseits müssen wieder in Einklang gebracht werden - ansonsten ist die Glaubwürdigkeit westlich-demokratischer Gesellschaftsmodelle in Frage gestellt. Entweder gilt Verfassung als Grundlage gesellschaftspolitischer Praxis, oder sie sollte - entsprechend den dominanten gesellschaftlichen Umgangsformen und Ausgrenzungspraxen - der gesellschaftlichen Realität angeglichen werden.

Am grundsätzlichen Recht der Religionsgemeinschaften auf Beteiligung an der Unterrichtung von SchülerInnen in Deutschland wurde noch nicht gerüttelt. Das mag sich in den nächsten Jahren ändern: es gibt Ansätze, jeglichen konfessionellen Unterricht aus den Schulen zu verbannen und in den privaten Bereich der Gemeinden zu verweisen. Noch gelten aber Grundgesetz und Landesverfassungen, und auf dieser Basis wird die Forderung nach Gleichberechtigung muslimischer SchülerInnen gestellt. Es bleibt zu hoffen, daß die anhängige Klage sowie die Bildung der KIRU die Umsetzung des Grundrechts vorantreiben werden. Jetzt stehen beide Seiten unter Zugzwang:

  • Die staatliche Seite kann nicht länger ignorieren, welche Einigungs- und Klärungsprozesse innerhalb der islamischen community stattgefunden haben, die ihre Position als religiöse Minderheit und Teil der deutschen Gesellschaft einzunehmen bereit ist. Aktuelle Gerichtsurteile sichern diese Einsicht juristisch ab.

  • Die muslimische Seite darf sich nicht nach diesen Schritten ausruhen, sondern sollte aktiv weitere Gestaltungs- und Umsetzungskonzepte unterbreiten, die auf breitem Konsens basieren, um dem ständigen Vorwurf mangelnder Einigkeit unter den Muslimen möglichst den Boden zu entziehen.


Fußnoten

1. Annette Schavan: Islam in Deutschland - gemeinsam zukunftsfähige Wege suchen, in: Evangelische Verantwortung, Nr.3, 1999, S.1-2

2. "Kulturmuslime" bzw. islam-kritische gebürtige Muslime, die sich von islamischen Verbänden nicht vertreten fühlen, werden ihre Kinder wahrscheinlich ohnehin nicht zum IRU oder einem anderen konfessionellen Unterricht anmelden. Ihre Bedürfnisse sind mit der Forderung nach ordentlichem IRU daher nicht betroffen; andere für diese Gruppe interessantere Unterrichtsangebote in Richtung LER oder überkonfessioneller ethischer Unterweisung sind legitime Ergänzungen des konfessionellen Unterrichts und nicht alternativ zu verstehen.

3. vgl. die "Darstellung der Grundlagen des Islam" durch die Islamische Religionsgemeinschaft in Hessen - IRH im Mai 1997

4. zu erhalten in der ZMD-Geschäftsstelle, Best.-Nr.: PM.21, vgl. Presse-Information vom 26.4.1999

5. Nach diesen Kriterien wurde mit Urteil vom 4.11.1998 die Islamische Föderation in Berlin als Religionsgemeinschaft anerkannt. (Aktenzeichen OVG 7 B 4.98)

6. vgl. "Gründungsprotokoll der gemeinsamen Kommission des ZMD und des Islamrates" vom 27.5.1999, eine entsprechende Kommission wurde ebenfalls von der IRH für die Verhandlungen in Hessen gebildet.

7. vgl. Frankfurter Rundschau vom 10.9.1999: Das Gericht betonte ausdrücklich, daß die nun anerkannte religiöse Gemeinschaft gerade auf Betreiben des hessischen Kultusministeriums gegründet worden sei, um einen Ansprechpartner zu haben. Vgl. auch die Presseerklärung der IRH vom 11.9.1999

8. vgl. die "Kritische Analyse der Unterrichtseinheiten der ersten Klasse der >religiösen Unterweisung für Schüler islamischen Glaubens<", erstellt im Auftrag des Islamischen Arbeitskreises in Deutschland (Vorläufer des ZMD), Köln 1992

9. vgl. den vom Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes NRW mit Rundschreiben vom 15.3.1999 verschickten "Entwurf eines Runderlasses Islamische Unterweisung"

10. vgl. die kontroverse Debatte zwischen Eckhard Nordhofen (in: ZEIT Nr.53/98) und Ulrike Brunotte (in ZEIT 3/99)

11. vgl. FAZ vom 5.2.1999 sowie den Beitrag von Faruk Sen in der ZEIT vom 12.5.1999

12. vgl. meine Stellungnahme für den Pädagogischen Fachausschuß im ZMD beim Hearing der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Landtag NRW am 19.3.1999, abgedruckt in der Dokumentation zum Hearing "Islam in der Einwanderungsgesellschaft"

13. siehe die vom Kultusministerium in Hessen in Auftrag gegebene Expertise des Orientinstituts Hamburg über die in der IRH vertretenen Organisationen

14. Zum Verhältnis von Islam und Fundamentalismus vgl. Amir Zaidan: Islam, Hort des Fundamentalismus? Oder altes, neues Feindbild? In: Freitagsblatt, Nr.5, 1999, S.4-5

15. Daß DITIB, die "Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion", durch die Anbindung an den türkischen Staat anderen Zwängen unterworfen ist, liegt auf der Hand. DITIB-Vertreter in Deutschland sind türkische Staatsbeamte, die von den Konsulaten beaufsichtigt werden und Anweisungen erhalten. Nichtsdestotrotz wird in Einzelfragen die Poltik von ZMD und Islamrat tolerierend unterstützt.

16. siehe die Urteilsbegründung des OVG Berlin

17. dazu von islamischer Seite als Klarstellung z.B. Amir Zaidan: Quran und Grundgesetz - Sind Islam und Demokratie vereinbar? In: Freitagsblatt, Nr.6, 1999, S.4-5 sowie Ders.: Islam und Grundgesetz - ein Widerspruch? In: Freitagsblatt, Nr.5, 1999, S.3

18. vgl. z.B. die Ausführungen der als "Islam-Expertin" geltenden Ursula Spuler-Stegemann: Muslime in Deutschland, Freiburg u.a.: Herder 1998

19. vgl. die Stellungnahme der IRH zu den Religionsgemeinschaften der Aleviten und Ahmadiyya (16 S.); zu erhalten über die IRH-Geschäftsstelle. Von der orthodoxen Lehre abweichende Vorstellungen von Inkarnation sowie von der herausragenden Stellung des Propheten (s.a.s.) machen ein gemeinsames beiden Religionsgemeinschaften gerecht werdendes Curriculum unmöglich; vgl. auch die im Freitagsblatt öffentlich geführte Diskussion mit Vertretern der Ahmadiyya in Deutschland.

20. So wird denn auch in Berlin in aller Eile an der Konzeption einer bekenntnisfreien "Islamkunde" gearbeitet, die in Zielsetzung und Inhalten mit dem Schulversuch in NRW vergleichbar ist (interne Information).

21. Zu den westlichen Klischeevorstellungen über Islam und besonders über muslimische Frauen, deren Wahrnehmung als zentral für die generelle Beurteilung bezeichnet werden kann, vgl. Irmgard Pinn/Marlies Wehner: Europhantasien. Das westliche Bild muslimischer Frauen, Duisburg: DISS 1995

Grundgesetz

Artikel 3,4:
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Artikel 7,3:
Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemein-
schaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.

Quelle: Amana Online

@ Ekrem Yolcu