Das Kopftuch und der neue Rassismus

Am Vorabend des 21. Jahrhunderts stehen alle Völker und Gesellschaftsgruppen vor der Herausforderung einer Neuorientierung in einer Welt, deren Grenzen immer durchlässiger werden und in der ehemals verfeindete Nationen zusammenwachsen. Neben dem Abbau territorialer, politischer und wirtschaftlicher Barrieren besteht die wichtigste und zentrale, die epochemachende Aufgabe darin, die geistigen Grenzen zwischen den Kulturen dauerhaft zu überwinden.
Limitierte Denkstrukturen sind der Nährboden für Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Die Verarbeitung dieser immensen mentalen und emotionalen Hindernisse beim Umgang miteinander ist vorrangig Aufgabe der Vertreter der Religionen und Kulturen. Der interreligiöse Dialog und die vertrauensvolle interkulturelle Kooperation sind auf diesem neuen bahnbrechenden Weg eine wesentliche Voraussetzung.

In welcher Form äußert sich Rassismus heutzutage?

In der europäischen Gesellschaft der Gegenwart erleben wir einen ständigen und rasanten Wandel und Veränderungen in allen Lebensbereichen. Davon betroffen sind auch die gesellschaftlichen Normen und Werte. Was gestern noch gültig war, ist heute schon undenkbar. Was bei unseren Großeltern noch verpönt war, ist heute möglich und völlig normal. Dieser Prozeß der „Befreiung" kann durchaus unterschiedlich rezipiert und umgesetzt werden:

  • man paßt sich ständig den Veränderungen an, wirft alle verinnerlichten Werte und Normen über Bord, verleugnet seine innere Überzeugung und läuft damit Gefahr, sich selbst zu verlieren;
  • man hält fest an den beständigen religiösen Werten und Normen, die Gott den Menschen vorgegeben hat und läuft damit Gefahr, die Kluft zwischen der sog. „freien und fortschrittlichen" Gesellschaft und der religiösen wertkonservativ-orientierten Minderheit zu vertiefen.

Die Freiheit der Wahl des Lebensstils und die Freiheit des Glaubens bzw. Nicht-Glaubens in der gegenwärtigen Moderne bleibt jedoch faktisch beschränkt auf die angepaßten Mitglieder der Gesellschaft und die unkritischen Mitläufer.
Völlig ausgeschlossen von der Freiheit der Wahl des Lebensstils und der Freiheit des Glaubens sind in der europäischen Realität die Muslime. Die religiöse Minderheit der Muslime ist aufgrund ihres freiwillig gewählten nicht-europäischen Lebensstils in zunehmendem Maße rassistischer Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt.

„Rassismus im weitesten Sinne ist überall dort gegeben, wo auf generationsübergreifende, fixistisch-statische Weise ganze Bevölkerungsgruppen aufgrund von Stigmata für unvereinbar mit anderen erklärt werden. Die Stigmata können (...) auch rein kulturell sein (religiöse Stigmata...)"1

„Zweifellos würden die meisten Deutschen es empört von sich weisen, wegen ihrer Haltung gegenüber dem Islam und gegenüber MuslimInnen mit rassistischen Denk- und Verhaltensweisen in Verbindung gebracht zu werden. Jedoch gilt es weithin als geradezu natürlich, wenn Deutsche auf diese in der Regel als fremd, aggressiv und mittelalterlich etikettierte Religion und ihre Anhänger mißtrauisch bis ablehnend aggressiv reagieren (...)
Der zeitgenössische Rassismus zeichnet sich ja im Gegenteil gerade dadurch aus, daß er sich - scheinbar wertneutral und gelegentlich sogar mit toleranter Attitüde - auf kulturelle Andersartigkeit und bedauerliche, doch unüberbrückbare Unverträglichkeiten im (zu) engen Zusammenleben beruft.
Statt im Blut und in den Genen werden Differenzen nun vorwiegend in der Kultur/Religion verortet (...) Obwohl sich also, anders als früher, nur sehr wenige Bürger westlicher Demokratien offen als Rassisten bekennen, ist der Rassismus nicht aus der Welt verschwunden. Was sich z.T. verändert hat, sind dessen Artikulationsformen und politische/theoretische Begründungen."2

„Rassismus ist ein staatliches Macht- und gesamtgesellschaftliches Gewaltverhältnis (institutioneller bzw. struktureller Rassismus: Asylrecht und Ausländergesetze), aber auch Ideologie, die Rangunterschiede zwischen Menschengruppen pseudowissenschaftlich zu rechtfertigen sucht (intellektueller Rassismus), sowie Denken und Handeln von Millionen von Menschen beeinflußt (Alltagsrassismus). Die meisten Betroffenen sind gleichwohl weder Rassisten noch Rechtsextremisten, aber in „rassistische Diskurse verstrickt" und sich dieser Tatsache nicht bewußt. Sozialdarwinistische und rassistische Denkmuster entstehen nicht von selbst, sondern werden schon in frühester Kindheit eingeübt."1

Wer ist betroffen von diesem neuen anti-religiösen und Kultur-Rassismus?

Hauptleidtragende unter dem neuen Rassismus, in all seinen Ausprägungen: „Alltagsrassismus, intellektueller, institutioneller und struktureller Rassismus", sind in Deutschland in besonderem Maße die Muslime und von dieser Gruppe vor allem die bekennenden und praktizierenden muslimischen Mädchen und Frauen, weil sie mit einem Stigma behaftet sind. Die muslimischen Mädchen und Frauen tragen ein Stigma, das von der Mehrheitsgesellschaft als unvereinbar mit der europäischen Kultur erklärt wird - die islamische Kleidung, das Kopftuch. Wegen dieses religiösen Stigmas erleben sie Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt auf mehrfache Art: - als Migranten - als Nicht-Deutsche - als Frauen - als muslimische Frauen.
Die rassistischen Tendenzen gegen diese Minderheit finden sich in allen Lebensbereichen, bei allen sozialen Schichten und allen Altersgruppen. Der Konsens bei der Ausgrenzung dieser Gruppe scheint so groß, daß dieser neue antireligiöse Rassismus bisher weder von den politisch Verantwortlichen noch von anderen Gesellschaftsgruppen adäquat wahrgenommen und thematisiert wurde.
Besonders gravierend wirkt sich die Ausgrenzung bzw. Diskriminierung dieser Gruppe im Bildungs-, Ausbildungs- und Arbeitssektor aus. Der Zugang bzw. die Partizipation in diesen Bereichen wird de facto erschwert oder verhindert und gleichzeitig wird die mangelnde Präsens dieser Gruppe in diesen Bereichen als Beweis für ihre mangelnde Integrationsfähigkeit angeführt und als Argument für rassistische Reaktionen benutzt. Durch diese „Täter-Opfer-Verschiebung" kommt es zu einem fatalen Zirkelschluß, den es zu durchbrechen gilt.

Welche Konzepte bietet der Islam gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus?

Der Islam fordert die Völker auf, aufeinander zuzugehen, sich gegenseitig kennenzulernen und sich gemeinsam für das Gute einzusetzen.

    Oh, ihr Menschen, Wir haben euch von einem männlichen und von einem weiblichen Wesen geschaffen, und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr euch kennenlernt. Der Angesehenste von euch bei Gott ist der Gottesfürchtigste. (49:13)3

Der Gesandte Muhammad (salla-llahu Ôalaihi wa sallam, Friede sei mit ihm) sagte:

    „Ihr (d.h. alle Menschen) seid die Kinder Adams und Adam stammte aus Erde. Keinen Vorrang hat der Araber vor dem Nichtaraber oder Nichtaraber vor dem Araber oder Schwarze vor dem Weißen oder der Weiße vor dem Schwarzen, es sei denn durch die Gottesfurcht." (überliefert von Imam Muslim)

Der Islam versteht sich als die Religion des goldenen Mittelwegs, der Mäßigung und der Ausgewogenheit in allen Bereichen, auch auf sozialer Ebene. Ein Blick in die islamische Geschichte zeigt, daß der Islam vor mehr als 1400 Jahren ein Gesellschaftssystem auf der Basis der Gleichwertigkeit aller Menschen, unabhängig von Rasse, Religion, Hautfarbe, Geschlecht usw. konstituiert und etabliert hat.

Das islamische Gesellschaftskonzept geht bereits in seinen Grundzügen von einer multi-nationalen, multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft aus. Die Pluralität der Menschen, Nationen, Kulturen und Religionen, die Vielfalt der Meinungen und die Kommunikation und Kooperation miteinander wird vom Islam als eine positive Bereicherung des Lebens betrachtet, die in dieser Vielfalt vom Schöpfer geschaffen wurde und so gewollt ist. (5:48)3

    „Für jeden von euch haben wir ein Gesetz und einen Lebensweg (d.h. eine eigene Religion) aufgezeigt. Und wenn Gott gewollt hätte, bestimmt hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Er wollte euch jedoch in alledem, was Er euch gegeben hat, prüfen. Darum wetteifert um die guten Dinge, zu Gott werdet ihr allesamt zurückkehren; dann wird Er euch darüber kundgeben, worin ihr verschieden waret."

Aus diesem Vers wird ersichtlich, daß das islamische Gesellschaftssystem weder Integration noch Assimilation der Minderheiten fordert, sondern ein gleichberechtigtes Miteinander und Nebeneinander vorsieht.
Die einzige vorgesehene Profilierungsmöglichkeit zwischen Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft und Angehörigen der Minderheiten ist das Wetteifern in den guten Werken. Extremismus jeder Art im Sinne von: Rassismus, Fundamentalismus, Fanatismus, Diskriminierung Andersdenkender oder Andersgläubiger und Gewaltanwendung zur Durchsetzung religiöser oder politischer Ziele werden vom Islam mißbilligt und auf das schärfste verurteilt.
Das Islamische Wertesystem gibt klare Anweisungen für den fruchtbaren interkulturellen und interreligiösen Dialog und die Beziehungen im zwischenmenschlichen Bereich. Es verlangt von den Muslimen ehrliche und offene Toleranz im positiven Sinne und fordert vorbehaltlose uneingeschränkte Akzeptanz der religiösen, politischen, kulturellen und sozialen Vielfalt innerhalb und außerhalb der eigenen Gemeinschaft.
Die islamisch geforderte Toleranz definiert sich eindeutig nicht in Toleranz im Sinne von „gutmütiges, großzügiges, gönnerhaftes Dulden und Ertragen", sondern die islamische Toleranz versteht sich als Akzeptanz im Sinne von „positiver Anerkennung, Bejahen und vorbehaltlos Annehmen".

Welches Lösungsansätze auf politischer und interreligiöser Ebene bieten sich?

Lösungsansätze allgemein:

  • Anerkennung des Islam als Religionsgemeinschaft; d.h. als Körperschaft des öffentlichen Rechts
  • Thematisierung des anti-religiösen Rassismus auf breiter Ebene
  • Schaffung von Rahmenbedingungen zum gleichberechtigten Miteinander aller Religionen
  • Anti-Diskriminierungsgesetz
  • Verbot rassistischer, anti-islamischer Wahlpropaganda
  • Quotenregelung bei der Ausbildungsplatz- und Arbeitsplatzvergabe
  • Gleichstellungsbeauftragte für Muslime bzw. für muslimische Mädchen und Frauen
  • gezielter Aufbau eines „positiv image" mit Hilfe der Medien und anderer Meinungsmacher
  • Kooperation mit Islamischen Fachkräften und Islamischen (Frauen-) Organisationen

Lösungsansätze im Bereich Erziehung und Bildung:

  • gezielte Förderung des Selbstwertgefühls muslimischer Kinder und Jugendlicher
  • forcierte Aufklärungsarbeit in allen Bildungs- und Sozial-Einrichtungen bzw. Fortbildung der Erzieher, Lehrer, Sozialarbeiter zum Thema „Islam-Muslime"
  • Aufwertung der islamischen Kultur und Tradition im Kindergarten- und Schulalltag
  • wertneutrale Vermittlung religiöser Werte
  • Einbeziehung islamischer Feste und Feiern in den Schulalltag
  • Akzeptanz religiöser Praktiken und Traditionen z.B. islamischer Ethik- und Moralvorstellungen oder islamischer Kleidungsvorschriften
  • Überprüfung der Lehrpläne und Unterrichtsmaterialienauf frauenfeindliche, anti-religiöse, anti-islamische Inhalte

Lösungsansätze im Bereich Ausbildung/Arbeitsmarkt:

  • Aufklärungskampagnen bei Arbeitgebern und Ausbildern s.o.

Lösungsansätze im Bereich des interreligiösen Dialogs:

  • Etablierung einer Tradition und Kultur des interreligiösen Dialogs
  • Erziehung zur Selbstkritik und zur Dialogfähigkeit im Elementar- und Schulbereich
  • Durchführung gemeinsamer interreligiöser Projekte
  • Intensivierung bestehender Aktivitäten im interreligiösen Dialog, analog zur Islamisch-Christlichen Arbeitsgemeinschaft in Hessen ICA

Das 21. Jahrhundert steht vor der Tür und bittet um Einlaß! Wie sollen wir es empfangen? Mit hochgezüchteter Technologie, die vorrangig wirtschaftlichem Wachstum und politischer Machterhaltung dient oder mit einer neuen Kultur des gleichberechtigten Miteinanders aller Menschen, Nationen, Kulturen und Religionen?

Es ist keine Zeit mehr für akademische Diskussionen, es gilt gemeinsam zu handeln!

1) Die vierte Gewalt, Rassismus und die Medien/Siegfried Jäger und Jürgen Link (Hg.)/Diss. Duisburg
2)"EuroPhantasien"/Irmgard Pinn und Marlies Wehner/Diss. Duisburg
3) Aus der Übersetzung des Quran

Text von : Amir Zaidan, Islamischer Arbeitskreis Hessen

@ Ekrem Yolcu