Podiumsdiskussion im Rathaus Schöneberg
Am 14.Januar fand im John-F.-Kennedy-Saal des Rathaus Schöneberg eine Podiumsdiskussion
unter dem Titel "Tschetschenien-wer gewinnt den Frieden ?" statt; veranstaltet
von "Kontakte e.V.", einem Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen
Sowjetunion. Teilnehmer der gut besuchten Veranstaltung waren Dr. Andreas
Heinemann-Grüder, Viktor Koslikin, Pressesprecher der Russischen Botschaft, Alexander
Rahr von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sowie Prof. Dr. Erhard
Stölting, Universität Potsdam. Dr. Norbert Meisner, Vorsitzender von "Kontakte
e.V.", übernahm die Moderation des Abends. Salih Brandt, Sprecher der
tschetschenischen Regierung für Europa, erhielt als Gastredner im Anschluss an die
Diskussion Gelegenheit zu einer kurzen Stellungnahme. Hier nun eine Zusammenfassung der
Aussagen und Stellungnahmen der einzelnen Diskussionsteilnehmer: Prof. Dr. Stölting:
"Die Unterdrückung bzw. der Versuch der Auslöschung der Muslime durch die Russen
hat eine lange Tradition, die bis in die Zeit der Zaren zurückreicht. Bis heute haben
westliche Medien nie wirklich die Tatsache reflektiert, daß die Deportation von
Tschetschenen und Inguschen in den Nachkriegsjahren mehr als 40% der Betroffenen das Leben
gekostet hat. Allerdings haben die Russen durch die Unterdrückung unfreiwillig die
Tariqats und damit den Islam auf dem Kaukasus gestärkt.Ich wundere mich über den Begriff
"tschetschenische Mafia". Wenn in den russischen Medien von einer
siebenköpfigen tschetschenischen Mafiabande berichtet wird, ist es gut möglich, daß
diese aus vier Russen und drei Georgiern besteht. Ich bin auch auch erstaunt darüber,
daß in den westlichen Medien im Zusammenhang mit dem Tschetschenienkonflikt ständig von
"Rebellen" und "Abtrünnigen" die Rede ist, und nicht, wie
beispielsweise im Zusammenhang mit Osttimor, von Freiheitskämpfern."
Alexander Rahr: Meines Erachtens sind die Ölvorkommen auf dem Kaukasus Hauptgrund für
den Konflikt. Die Gegend ist auch für die westliche Welt erst Anfang der neunziger Jahre
interessant geworden, nachdem man Ölfelder gefunden hatte. Es ist auch kein Geheimnis,
daß die amerikanische Regierung den Kaukasus als "zukunftssicherndes, strategisch
wichtiges Gebiet" betrachtet. Auch Europa hat ähnliche Interessen am Kaukasus und
versucht deshalb, teilweise auch im Windschatten humanitären Engagements, Einfluss zu
nehmen. Ich sehe in dem Tschetschenienkrieg eine Fortsetzung der russischen Aggression
gegen die Muslime des Kaukasus, aber auch die desaströse Politik der tschetschenischen
Regierung seit dem ersten Tschetschenienkrieg hat Russland den Einmarsch erleichtert. Ich
gehe davon aus, daß es auch zukünftig, unabhängig vom Kriegsausgang, sehr schwer sein
wird, den Kaukasus zu befrieden. Dies liegt an den verschiedenen internationalen sowie den
vielfältigen regionalen Interessen an und in der Region, welche wiederum hauptsächlich
in den dortigen Rohstoffvorkommen begründet sind.
Dr. Heinemann-Grüder: Der tschetschenische Präsident Maschadow ist von al-Khattab,
Jandarbajew und auch Bassajew praktisch "links überholt" worden; dies ist ein
Zeichen, daß Maschadow nicht die volle Kontrolle in Tschetschenien hat. Es war auch ein
Fehler, Leute zu entführen, die vorher den Tschetschenen geholfen hatten. Ich kann nicht
erkennen, welche Ziele al-Khattab mit seinem Einmarsch in Dagestan verfolgt hat. In
Tschtschenien gibt es zwei Herrschaftssysteme: das "offizielle" mit Maschadow
als Präsident und ein zweites, schwer kontrollierbares Geflecht aus Clans, Gruppen und
auch Banden. Ich möchte auch auf die Situation in Rußland zur Zeit des Einmarsches in
Tschetschenien eingehen. Sie war geprägt von Skandalen um den angeschlagenen Präsidenten
Jelzin, insbesondere die Veruntreuung von IWF-Geldern für Russland durch Leute aus
Jelzins Familie beziehungsweise deren Umkreis. Nicht umsonst hat sich Jelzin für den Fall
seines Rücktritts generelle Immunität zusichern lassen. Innenpolitische Schwierigkeiten
haben den Kreml ebenso in ein schlechtes Bild gerückt wie die Etablierung einer
Defacto-Oligarchie durch den Gazprom-Chef Berishovsky, der nebenbei auch als Vermittler
westlicher Interessen an die russische Regierung fungiert. Der Tschetschenienkrieg bietet
nun natürlich die Möglichkeit, von diesen innerrussischen Problemen abzulenken und die
unzufriedene Bevölkerung auf einen gemeinsamen Feind einzuschwören. Putin, ein recht
unbeschriebenes Blatt, kann seine Chancen bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen
durch einen Sieg im Tschetschenienkrieg stark verbessern. Ich halte es für durchaus
möglich, daß die Bombenanschläge auf russische Wohnblocks, die die Regierung zum Anlass
nahm, in Tschetschenien einzufallen, von den Russen selbst inszeniert wurden; schließlich
gibt es nach wie vor keine Beweise für die Beteiligung "tschetschenischer
Terroristen", die Ermittlungen sind offenbar eingestellt.
Viktor Koslikin:In Anlehnung an Prof.Stoltings Worte möchte ich sagen, daß mir der
Begriff "Russenmafia" nicht gefällt. Es sind nicht nur Russen, die in diesen
Banden zusammengeschlossen sind. Noch nie hat es Pläne vonseiten Russlands für einen
Genozid an der tschetschenischen Bevölkerung gegeben. Die Tschetschenen sind auch bei den
Zaren hochangesehen gewesen, schließlich waren sie auch in deren Leibgarden vertreten.
Terroranschläge in Russland, die von Tschetschenen inietiiert sind sowie die Entführung
von 1.500 Menschen in Tschetschenien, haben Russland zum Eingreifen genötigt. Die
Entführungen werden in den westlichen Medien nicht erwähnt, es sei denn, Landsleute sind
betroffen.
Salih Brandt: " Heute abend sind einige Dinge gesagt worden, die man gleichzeitig als
richtig und falsch bezeichnen kann. Ich bin weit davon entfernt, den Tschetschenienkrieg
als Auseinandersetzung zwischen den "bösen" Russen und den "guten"
Tschetschenen darzustellen, so einfach ist es nicht. Man muss zunächst sehen, dass das
russische Volk dreimal betrogen wurde: von den Zaren, vom Kommunismus und nun von einer
Oligarchie, deren Finanzier Berishovsky ist. Ich komme aus England und bin seit zehn
Jahren Muslim, und es tut mir leid zu sehen, daß der Wahabismus das Bild des Islam
negativ beeinflusst. Tausende junger Männer sind unter dem Einfluss dieses Phänomens
einen sinnlosen Tod gestorben. Die Wahabiten sind in Saudi-Arabien ausgebildet und, wie
die Taliban, ursprünglich von Amerika finanziert worden. Sie präsentieren ein
pervertiertes Zerrbild des Islam, welches dazu führt, daß der Islam für die Europäer
unattraktiv erscheint. Außerdem geben die von den Wahabiten ausgehenden Aggressionen, wie
z.B. die von Khattab geführte Invasion in Dagestan, Gelegenheit, westliche geopolitische
Interessen durchzusetzen. Warum ist in all den Jahren des vermeintlichen Kampfes der
Wahabiten und Taliban nie eine einzige Pipeline angegriffen worden? Die Beschlüsse der
OSZE-Konferenz, an deren Rande die US-Außenministerin Albright kein Interesse zeigte, die
tschetschenische Delegation zu treffen, bedeuten faktisch die Aufgabe der Souveränität
Russlands zugunsten der OSZE. Abschliessend möchte ich an Herrn Koslikin als Vertreter
Russlands appellieren: Beenden Sie bitte diesen sinnlosen Krieg, gerade auch angesichts
des Leids der Zivilbevölkerung. Russland kann diesen Krieg nicht gewinnen, weil sich ein
Volk nicht dauerhaft von einer Fremdmacht kontrollieren lässt, wenn es das nicht will.
Quelle: Islamische Zeitung, 36. Ausgabe