Interview mit Riad Aswat


Politikwissenschaftler und Mitglied der Dachorganisation australischer Muslime

IZ: Erzählen Sie uns bitte zu Beginn etwas über die Muslime in Australien?

Riad Aswat: Die ersten Muslime, die nach Australien kamen, waren macassische Fischer. Deren Erscheinen fand vor der Ansiedlung der ersten Europäer statt. Diese Fischer waren auf ihrer Suche nach einer bestimmten Meeresschneckenart in den Golf von Carpentaria geführt worden. Ihre Kontakte mit den australischen Ureinwohnern beschränkten sich meist auf den Handel, da sie als Fischer weder Land noch Hilfskräfte brauchten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden malayische Taucher angeheuert im Auftrage der Perlenindustrie. Während seiner kolonialen Periode war Australien ein rassistisches und fremdenfeindliches Land, das nach 1901 eine Politik des Weißen Australien verfolgte, die durch die Einführung des neuen Einwanderungsgesetzes der jungen Commonwealthregierung beschleunigt wurde, und dem zufolge nichteuropäische Einwanderer aufgrund ihrer Rasse an der Immigration nach Australien gehindert wurden.

Die ersten bleibenden muslimischen Siedler waren afghanische Kamelführer, die eingestellt wurden von der kolonialen Verwaltung, um Transport ins „Outback“ (inneraustralische Wüste) sicherzustellen. Diese Kamelführer heirateten europäische und eingeborene Frauen, die den Islam annahmen und ihre Kinder als Muslime erzogen und sie bauten die ersten Moscheen in Städten und Siedlungen.

Mitte der zwanziger Jahre verschwand die Nachfrage nach den Kamelen als Transportmittel, da diese durch motorisierte Fahrzeuge ersetzt wurden. Zur selben Zeit gab es einen sprunghaften Anstieg von Einwanderern aus Albanien. Nach dem ersten Weltkrieg ermutigten australische Behörden allgemein zur Einwanderung, da sie fürchteten, daß ihr dünnbesiedeltes Land nur unzureichend gegen Angriffe gesichert sei. Nach dem 2. Weltkrieg kamen muslimische Flüchtlinge aus Rußland, Jugoslawien, Zypern und anderen, vom Krieg zerissenen Ländern nach Australien. Nach der Abnahme der Einwanderung aus westlichen und südlichen Regionen Europas, schloß die australische Regierung ein Abkommen mit der Türkei im Jahre 1967, das eine große Einwanderung von Muslimen zur Folge hatte. Mit dem Krieg 1967 zwischen Arabern und Israelis und dem folgenden Bürgerkrieg im Libanon stiegen die Zahlen der Immigranten aus dieser Region ebenfalls rapide an. Die Politik des Weißen Australiens wurde endgültig 1972 aufgehoben. Obwohl die Zahlenangaben verschiedentlich schwanken, können wir von einer halben Million Australier muslimischen Ursprungs ausgehen.

IZ: Was ist das Selbstverständnis der Muslime in Australien?

Riad Aswat: Die muslimische Gemeinschaft in Australien ist nach nationaler und ethnischer Herkunft organisiert und der Islam wird als Teil der jeweiligen nationalen Identität betrachtet, wobei die Moscheen den grundlegenden Bestandteil der religiösen Sozialisation bilden. Es ist der Ort, wo man heiraten kann, die Begräbnisriten vollzogen werden und die Djumu’ah und ‘Idgebete verrichtet werden. Die Moscheevorstände und die islamischen Vereine haben sich gegründet, um die Aktivitäten dieser Moscheen zu koordinieren. Es gibt im Augenblick wenig Hinweise darauf, daß sich die Einwanderer als Teil dieser Gesellschaft betrachten, mit der sie das gleiche Land teilen. Es gibt bisher keine aktive Da’wah zu den hier lebenden Nichtmuslimen. Dazu kommt noch, daß die Gemeinschaft in die in der ganzen Welt bekannten ideologischen Organisationen aufgeteilt ist.

IZ: Welche Zukunft sehen Sie für die Muslime in ihrem Land?

Riad Aswat: Die Zukunft sieht für diese erwähnten Gruppen meiner Ansicht nach düster aus. Sie sind alle Opfer eines Plans, der den Islam in eine „Religion“ wie das Christentum verwandeln will. Eine Religion, in der der Islam zu einer privaten und persönlichen Angelegenheit der Muslime gemacht wird, und die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Dimensionen den Politikern und ihren finanziellen Auftraggebern überlassen werden. Keine der existierenden Gruppierungen wird wegen ihrer säkularen und islamischen Erziehung aus diesem eisernen Griff ausbrechen können. Um das Maß voll zu machen, sind sie auch noch Opfer der Medien, die dem Islam feindlich gegenüberstehen. Der letzte Sargnagel für diese Muslime ist, daß tatsächlich die politische und wirtschaftliche Macht in den Händen derjenigen ist, die kein Interesse an einem blühenden und wachsenden Islam haben.

IZ: Gibt es für die Muslime eine Rolle, die sie in der gesamten Region spielen könnten?

Riad Aswat: Eigentlich müßte den Muslimen in Australien eine bedeutende Rolle zukommen, da sie südlich von den wichtigsten muslimischen Siedlingsgebieten Südostasiens und Ozeaniens leben. Wegen ihrer schwachen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen können die Muslime in Australien keine entscheidene Rolle in der Region, d.h. Indonesien, Malaysia, Brunai, Thailand, Philippinen, Fidschi etc., spielen. Obwohl der Handel zwischen Australien und den erwähnten Gebieten jährlich mehr als 13,86 Mrd. DM ausmacht, bleibt am Ende nur sehr wenig davon übrig für diejenigen, die es wirklich benötigen.

IZ: Was sind Ihre Vorstellungen, was die Muslime Australiens in der Zukunft tun sollten?

Riad Aswat: Wir müssen den Islam als eine soziale, politische und wirtschaftliche Wirklichkeit in die Tat umsetzen. Wir müssen allen Leuten, Muslimen wie Nichtmuslimen, verständlich machen, daß nur der Islam uns eine lebenswerte Zukunft ermöglicht. Die moderne Gesellschaft, heute eine globale Erscheinung, erlebt eine große Menge an schwerwiegenden Problemen, wie z.B. Armut, Hunger, Völkermord, Familienkatastrophen, sogenannte unheilbare Krankheiten, Umweltverschmutzung, die Globalisierung des Kapitalismus und die Ungerechtigkeiten, die damit verbunden sind.

IZ: Was macht denn den Islam so besonders, daß Sie glauben, daß er die erwähnten Probleme lösen kann?

Riad Aswat: Als Wurzel all dieser Schwierigkeiten kann das Verhalten der Menschen betrachtet werden, welches eigentlich dem natürlichen menschlichen Verhalten widerspricht. Unser Leben verläuft nach Gesetzmäßigkeiten. Für uns Menschen sind dies die physischen, biologischen und chemischen Gesetze. Die Himmelskörper, Mineralien, Pflanzen und Tiere haben keine andere Wahl, als den ihnen eignen Gesetzmäßigkeiten zu folgen. Die Menschen sind wie alle physischen Geschöpfe begrenzt und an die Kreisläufe der Natur und wiederkehrende Ereignisse gebunden. Wir können unseren Willen nicht der Natur aufzwingen, sondern nur auf sie antworten.

Der Versuch, von außen eine Ordnung dem Menschen aufzuzwingen, ist der wahnsinnige Versuch des Modernismus und als Beweismaterial brauchen wir nur den Kommunismus, Faschismus oder den Kapitalismus zu betrachten.

Menschen in ihrem eigentlichen und natürlichen Zustand sind harmonische Wesen. Moralisches Verhalten ist nicht etwas, was den Menschen aus gesellschaftlichen Notwendigkeiten heraus aufgezwungen wird, sondern gehört zu uns selbst und verlangt aus seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten heraus das Funktionieren von Gesellschaft. Allah hat jedem Geschöpf Wissen über seine Natur offenbart.

Die menschliche Art wurde nicht vergessen, noch wurde sie ohne Weg gelassen, in welcher Art sie ihrer Leben führen sollte. Die Eingebung für die Menschen kam durch das Prophetentum und das Muster des menschlichen Wesens wird der Din al-Fitra, die natürliche Lebensweise genannt. Die endgültige Version göttlicher Rechtleitung wurde dem Propheten Muhammad, Allahs Friede und Segen auf ihm, offenbart, der Islam. Islam, wenn auf diese Weise verstanden, ist kein historisches Ereignis, welches vor 1.400 Jahren begann. Es ist die zeitlose Kunst des Erwachens durch das Mittel der Unterwerfung. Das Wort Islam heißt Unterwerfung, d.h. Unterwerfung unter den Willen Allahs, die u.a. bedingt, daß wir anerkennen, daß jedes Geschöpf begrenzt ist und durch sein eigenes Dasein bestimmt wird.

IZ: Warum sind die Muslime nicht in der Lage, die Probleme, denen sie heute gegenüberstehen, zu bewältigen?

Riad Aswat: Obwohl die Botschaft des Islams als solche einfach und allen zugänglich ist, sind die Muslime durch den Strukturalismus eingeschränkt worden und deshalb ist es dieses Phänomen, welches überwunden werden muß, damit wir den Islam wieder in unserem Leben einrichten können. Obwohl der Din keine theoretische Schöpfung ist und für alle Menschen offenbart wurde, kennen ihnen viele Menschen hier in Australien nicht, da keine Da’wah zu ihnen gemacht wurde. Essen und Kleidung auf muslimische Weise ist einfach, aber die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte sind schwierig, aber ihnen muß Priorität eingeräumt werden, damit die Muslime erfolgreich sein können. Solange wir Muslime in der Falle des Strukturalismus gefangen sind, können wir keine wirklichen Erfolge haben.

IZ: Können Sie uns das Verhältnis des von Ihnen so bezeichneten „Strukturalismus“ zu den Phänomenen der Wirtschaft und Politik beschreiben? Was heißt „Strukturalismus“ für Sie?

Riad Aswat: Der Strukturalismus ist derjenige Zustand, bei dem der Mensch sich nicht mehr in seinem natürlichen Gleichgewicht befindet. Allah offenbart im Qur’an, daß der Mensch zwei Fähigkeiten besitzt; die der Sinne und die des Herzens. Sinnliche Fähigkeiten erlauben uns zu denken, zu untersuchen und unseren Verstand zu schulen. Diese Fähigkeit ermöglicht uns, mit den physischen, materiellen Dimensionen unserer Existenz zu beschäftigen.

Das Herz ist die Fähigkeit, die sich mit der spirituellen Landschaft beschäftigt. Es ist in der Lage, Allahs Offenbarungen zu kennen, Seine Gesandten, Seine Engel, den Jüngsten Tag, die Waage, das Schicksal und das meiste von Allah selbst. Die Reise des Körpers mit seinen Sinnen und dem Intellekt ist die zum Tod. Die Reise der Seele und des Herzens ist zurück zu Allah, Der uns schuf und uns Leben gab. Die Reise des Herzens ist zu Allah und das Vorbild dieser Reise ist die Miradsch, die Reise des Propheten, Allahs Frieden und Segen auf ihm, und im Qur’an beschrieben. Der Prophet, Allahs Frieden und Segen auf ihm, sagte, daß das Gebet die Miradsch des Mumin ist.

Der Strukturalismus ist derjenige Zustand, bei dem Menschen sich nur noch der physischen Komponente ihres Wesens zuwenden. Sie sind in der materiellen Welt voll entwickelt, aber verkümmert in ihrer spirituellen. Die Katastrophe der europäischen und später der westlichen Zivilisation war die direkte Folge der Zurückweisung des spirituellen Erbes von Ibn Ruschd (Averroes).

Ibn Ruschd, einer der Gründerväter der nachantiken westlichen Zivilisation, war Jurist, Naturwissenschaftler und Philosoph im muslimischen Andalusien. Er schrieb ausführlich über Logik und Naturwissenschaften und seine Arbeiten wurden ins Lateinische übertragen. Diese Arbeiten gaben den Anstoß für die Renaissance und später die Aufklärung. Nach Ibn Ruschd hat Europa den erstaunlichen Aufstieg des Strukturalismus erlaubt, der seine Krönung in der Cartesianischen Philosophie und der Newtonschen Physik fand. Tragischerweise ist es den Übersetzern von Ibn Ruschd nicht gelungen, seine Erkenntnis zu verbreiten, daß das rationale Verständnis des Menschens begrenzt ist und wir die Göttliche Offenbarung benötigen, um ein vollständiges Wissen vom Universum und uns selbst zu erhalten.

In politischen Fragen zeigt sich dieser Strukturalismus als Staatsdenken, welches die äußeren Strukturen einer Nation verfestigt und absichert und gleichzeitig die Gesellschaft aus dem Inneren heraus zum Zusammenbruch treibt. Dieses Staatsdenken ist der Apparat, mit dem das technische Projekt seine Ziele umsetzt. Mit seiner Hilfe werden die individuellen Energien des Einzelnen in Funktionseinheiten des Produktionsprozesses umgewandelt. Die gleichen Produzenten bilden auch die Verbraucher, einschließlich ihres unersättlichen Appetits. Dem politischen Staat kann daher auch kein Widerstand geleistet werden, da seine Macht sich außerhalb des politischen Prozesses abspielt.

Der Kommunismus wurde besiegt und nun hat das System, welches den Reichen erlaubt, enorme Mengen an Reichtum anzuhäufen, keine Herausforderer mehr.

IZ: Wie konnten die Muslime dem Strukturalismus unterliegen?

Riad Aswat: Dieses Phänomen, welches die Muslime geblendet hat, kam nicht ausschließlich aus der westlichen Welt, er betrat die muslimische Geisteswelt schon früher in der islamischen Geschichte. Ein dramatisches Ereignis markiert den Beginn des Strukturalismus im Bereich des islamischen Rechts. Es ist die Zerstörung des Osmanischen Khalifats. Der Ende des Khalifats kündigte den Aufstieg der modernistischen Gruppen an. Diese Veränderungen beziehen sich nicht auf technische und trockene Aspekte legaler Theorie, sondern sie hatten tiefste Konsequenzen auf das praktische Leben und die Geschichte der Muslime.

IZ: Wie würde Ihrer Ansicht nach ein Islam aussehen, der nicht strukturalistisch ist?

Riad Aswat: Islam ist eine Wissenschaft, die durch tatsächliche Übertragung weitergegeben wird und nicht durch Bücher. Islam ist Qur’an und Sunnah und deren Lehre; nicht durch die Aufnahme von strukturierten Informationen, sonden durch Übernahme von Verhaltensmustern eines Mannes, der bereits selbst diese Verhaltensmuster praktiziert. Es sind nicht die Bücher, die den Menschen schaffen, sondern die Verbindung von Herz zu Herz. Wir müssen uns daran erinnern, daß im eigentlichen islamischen Phänomen, welches die Stadt des Gesandten Allahs, Allahs Frieden und Segen auf ihm, war, die Gefährten keine Texte hatten, um Islam zu lernen.

Der Schlüssel, um diese offenkundige Tatsache zu begreifen, ist die Beschreibung des Propheten, Allahs Frieden und Segen auf ihm, durch Aischa,wenn sie über ihn sagt: „Er war der gehende Qur’an.“ Die Sunnah ist die lebendige Verkörperung der qur’anischen Botschaft und zeigt uns, wie nach den offenbarten Anweisungen gehandelt werden muß. Die Sunnah wurde von den Gefährten des Propheten an die Nachfolger weitergegeben und dann wiederum von ihnen an die Nachfolger der Nachfolger.

IZ: Lassen Sie uns abschließen mit der Frage, wie denn dieses akute Phänomen überwunden werden kann?

Riad Aswat: Allah hat das Universum in gegensätzlichen Paaren erschaffen. Wie bereits erwähnt, beinhalten wir selbst die beiden Dimensionen des Materiellen und des Spirituellen und die Unfähigkeit, die beiden Formen der Erfahrung im Gleichgewicht zu halten, ist eine der grundlegenden Erscheinungen in der Geschichte des Menschen. Im Islam betrachten wir den Muslim als Individuum, in dem sich die großen Ozeane der Schari’ah und der Haqiqah treffen. Die Schari’ah, die äußere Wissenschaft, bezieht sich auf die physische Dimension der Existenz und die Haqiqah, die Wissenschaft vom Inneren, bezieht sich auf die spirituelle Dimension unseres Daseins. Der ausgeglichene Weg zwischen diesen beiden ist der, den Allah als Mittleren Weg offenbart hat. Das bedeutet, daß wir am Ende nicht nur Männer brauchen, die die äußeren Wissenschaften unterichten, sondern auch Lehrer, die über die innere Dimension des Menschen sprechen.


Quelle: Islamische Zeitung, 36. Ausgabe

@ Ekrem Yolcu

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