Wissenschaft: Medizinische Erbschaft

Eine kurze Geschichte der muslimischen Medizin

Nach dem Zusammenbruch des westlichen römischen Reiches im fünften Jahrhundert verlor Europa auch die Verbindung zu einem Grossteil seines intellektuellen Erbes, der griechischen Wissenschaft und auch lateinischen Schriften. Die Kirche wurde das Zentrum der neuen Europäischen Weltsicht, dies wirkte sich natürlich auch auf die Medizin aus.
Die von Mönchsorden betriebenen Hospitäler boten Schwerkranken Schutz und Verpflegung, aber keine medizinische Versorgung. Entweder die Patienten erholten sich aus eigener Kraft oder sie starben, ausgebildete Ärzte gab es nicht. Da die christliche Kirche ihr Hauptaugenmerk auf Seelsorge legte, wurden medizinische Betreuung und Körperhygiene vernachlässigt. Krankheiten wurden als ein Zustand betrachtet, der von übernatürlichen, wenn nicht gar teuflischen Kräften verursacht wurde, für jede Krankheit gab es einen Schutzpatron. Es war zwar üblich, Krankheiten und verwahrloste Patienten zu beschreiben, nicht jedoch, die Ursachen zu erforschen oder zu heilen. Mitte des siebten Jahrhunderts verbot die Kirche chirurgische Eingriffe durch Mönche, da dies als Gefährdung ihrer Seelen betrachtet wurde. Da Operationen fast ausschliesslich von Geistlichen vorgenommen wurden, beendete dieses Verbot praktisch die Chirurgie in Europa.

Ungefähr zur selben Zeit entstand im Osten eine neue Zivilisation. Die Verbreitung des Islam führte zu einer beispiellosen Entwicklung in allen Lebensbereichen. Die Araber verbanden die verschiedenen, vom Islam geprägten Kulturen und Arabisch, die Sprache des Koran, erlangte allgemeine Gültigkeit. Im zehnten Jahrhundert konnte man sich mit Arabisch bis nach Südfrankreich verständigen, und Arabisch wurde für den Osten, was Latein und Griechisch für den Westen gewesen waren, die Sprache der Literatur, der Künste und Wissenschaften, die Sprache der Gebildeten. Medizin war die erste der griechischen Wissenschaften, die von islamischen Gelehrten studiert wurde.

Nachdem Platos Akademie 529 geschlossen worden war, fanden einige ihrer Gelehrten Zuflucht an der Universität von Jundischahpur, der alten sassanidischen Metropole in Persien, die 431 auch exkommunizierte christliche Gelehrte, unter ihnen Mediziner, aufgenommen hatte. 636 wurde Persien Teil der islamischen Welt, und die arabischen Herrscher förderten die medizinische Schule in Jundischahpur; für die nächsten zweihundert Jahre entwickelte sie sich zum bedeutendsten Zentrum medizinischer Lehre in der islamischen Welt.
Dort machten sich muslimische Ärzte mit den Arbeiten von Hippokrates, Galen und anderer Griechen, aber auch mit dem medizinischen Wissen des Byzantinischen Reiches, Persiens, Indiens und Chinas vertraut. Da sie die Notwendigkeit der Übersetzung griechischer Arbeiten ins Arabische erkannten, etablierten die abbasidischen Khalifen Harun ar-Raschid (786-809) und sein Sohn al-Mamun (813-833) einen Übersetzungsdienst in Bagdad, das Bait al-Hikma, oder Haus der Weisheit. Sie sandten auch Botschafter aus, um im Byzantinischen Reich griechische wissenschafliche Arbeiten zu sammeln.

Der wichtigste Übersetzer war Hunain ibn Ishaq al-Ibdi, der zusammen mit seinen Leuten sämtliche medizinischen Texte der Griechen, einschließlich der Arbeiten von Galen, Oribasius, Paul von Aegin, Hippocrates und Dioscorides zum Ende des neunten Jahrhunderts ins Arabische übertrug und damit den Grundstein für die einzigartige Kunst der arabischen Medizin legte.

Die medizinische Praxis der Muslime basierte auf der Erkenntnis, dass der menschliche Körper aus denselben vier Elementen wie die Welt zusammengesetzt ist: Erde, Luft, Feuer und Wasser. Diese Elemente konnten zu verschiedenen Teilen gemischt werden, die verschiedenen Mischungen entsprachen den verschiedenen Temperamenten und Zuständen; wenn die Elemente des Körpers richtig balanciert waren, war der Betreffende gesund. Krankheit wurde nicht den bösen Mächten zugeschrieben, sondern als Folge eines Ungleichgewichts betrachtet, die durch die Heilkunst eines Doktors korrigiert werden konnte.


Die muslimischen Ärzte betrachteten Medizin als Wissenschaft, durch die die verschiedenen Zustände des menschlichen Körpers erkannt werden konnten; ihr Ziel war es, die Gesundheit zu bewahren und, im Krankheitsfalle, zu helfen, diese wieder zu erlangen. Schon vor dem Abschluss der Übersetzungsarbeiten wurden auch auf anderen Gebieten der Medizin Fortschritte gemacht. 805 eröffnete Harun ar-Raschid das erste Hospital in Bagdad, und innerhalb weniger Jahre wuchs ihre Zahl in der islamischen Welt beständig. Diese Hospitäler hatten mit den europäischen Krankenlagern wenig gemein. In ihnen wurden Kranke von den Ärzten fachgerecht betreut und, nach Möglichkeit, geheilt; die Ärzte waren bestrebt, in den angeschlossenen Schulen und Bibliotheken ihr Wissen zu vertiefen und sich zu verbessern. Das Hospital, auf persisch „Bimaristan”, war die Wiege arabischer Medizin und Grundlage moderner Krankenhäuser. Auch die Pharmazie gewann durch die Verbreitung des Islam an Bedeutung.

Der Islam lehrt, daß Allah für jede Krankheit ein Heilmittel geschaffen hat, Muslime sollten diese suchen und anwenden. Arabische Pharmazeuten führten eine große Anzahl neuer Heilmittel ein; zum Beispiel Kampfer, Sandelholz, Myrrhe, Muskat, Nelke und andere. Zur Verdünnung starker Mittel wurde Rosenwasser und Orangenblütenwasser gewonnen, auch die betäubende Wirkung des indischen Hanfs war bekannt. Zu Beginn des neunten Jahrhunderts öffneten in Bagdad die ersten privaten Apotheken, deren Betreiber eine Ausbildung durchlaufen und Prüfungen bestehen mussten.
Die Blüte ureigenster Arbeiten der arabischen Medizin begann gegen Ende des neunten Jahrhunderts. Die erste wichtige Arbeit stammte von Abu Bakr Muhammad ibn Zakariya ar-Razi (ca. 841-926), der in der Nähe von Teheran geboren wurde und sich erst im Alter von vierzig Jahren der Medizin zuwandte. Er gilt als einer der bedeutendsten Denker der islamischen Medizin, dem die Begründung der Kinderheilkunde zugeschrieben wird. Ar-Razis Arbeit über Nierensteine findet noch heute Beachtung. Als Leiter eines Hospitals in Bagdad legte er Wert auf einen möglichst hohen Ausbildungsstand der Ärzte, die er dazu anhielt, sich ständig weiterzuentwickeln. Sein erstes Hauptwerk war al-Kitab al-Mansuri, in dem er so verschiedene Themen wie allgemeine medizinische Theorien, Diäten und Medikamente, Mutter- und Kinderfürsorge, Hautkrankheiten, Mundhygiene und Umwelteinflüsse behandelte. Er war der erste, der den Unterschied zwischen Pocken und Masern nachwies und eine nach wie vor gültige Anleitung zur Behandlung der beiden Krankheiten erstellte. Sein am meisten beachtetes Werk war al-Kitab al-Hawi, für das er ein Leben lang Material gesammelt hatte und das gesamte medizinische Wissen seiner Zeit, von ar-Razi kommentiert, darstellen sollte.

Ein halbes Jahrhundert nach ar-Razis Tod wurde Abu Ali al-Husain ibn ‘Abdallah ibn Sina (980-1037) in Bukhara, im jetzigen Usbekistan, geboren. Spätere lateinische Übersetzer gaben ihm den Namen Avicenna. Ibn Sinas Bedeutung für die arabische Welt ist vergleichbar mit der von Aristoteles für die Griechen und Goethe für Europa. Er war einzigartig nicht nur auf dem Gebiet der Medizin, sondern auch dem der Philosophie, der Wissenschaft, der Musik, der Poesie und der Regierungskunst. Im Alter von zehn Jahren kannte der Sohn eines Steuereinziehers den Qu’ran auswendig und wandte sich dem Studium des Rechts, der Mathematik, der Physik und der Philosophie zu. Mit sechzehn studierte er Medizin, was er als „nicht schwierig“ bezeichnete. Mit zwanzig wurde er Hofarzt und Wesir von Schams ad-Dawlah, Prinz von Hamadan im westlichen Persien. Obwohl vielbeschäftigt, fand er Zeit, zwanzig Bücher über die Religion, Metaphysik, Astronomie, Philologie und Poesie und zwanzig weitere über Medizin zu schreiben, darunter Kitab asch-Schifa, das Buch der Heilung, eine medizinische und philosophische Enzyklopädie.

Sein Hauptwerk jedoch ist das monumentale al-Qanun fi’t-Tibb, Der Kanon der Medizin, welches nichts weniger als die Einordnung allen damals existierenden medizinischen Wissens darstellt. Es überrascht nicht, daß es bald das medizinische Standardwerk der islamischen Welt wurde, welches bis in das neunzehnte Jahrhundert hinein benutzt wurde.
Im zehnten Jahrhundert begannen die Europäer, die intellektuellen Früchte der Araber zu ernten und damit auch ihr eigenes klassisches Erbe zu suchen. Die medizinischen Werke von Galen und Hippokrates kamen durch den mittleren Osten und Nordafrika nach Europa zurück. Durch die intellektuelle Bewegung in der islamischen Gegenwart hatte Europa einiges seiner Vergangenheit wiederentdeckt.

Die beiden wichtigsten Übersetzer klassischen Materials aus dem Arabischen ins Lateinische waren Constantinus Africanus (1020-1087), der in Salerno und im Kloster von Monte Cassino lebte, und Gerard von Cremona (1140-1187), der in Toledo arbeitete. Es war sicher kein Zufall, daß die erste große medizinische Fakultät des Mittelalters in Salerno, nahe dem arabisch geprägten Sizilien, entstand und daß die zweite 1221 in Montpellier, nicht weit von der andalusischen Grenze, gegründet wurde.

Der Einfluss von Ibn Sinas Kanon, der zum Ende des zwölften Jahrhunderts erstmals in Europa auftauchte, war dramatisch. Schnell vervielfältigt, galt es über Jahrhunderte als das medizinische Standardwerk schlechthin. Übersetzungen von ar-Razis Kitab al-Hawi folgten bald; Ibn Sina und ar-Razi galten unter zeitgenössischen Europäern als wichtigste Autoritäten in medizinischen Angelegenheiten, doch nicht nur sie beeinflussten Europa. Übersetzungen von mehr als vierhundert arabischen Autoren, die über verschiedene Themen wie Chirurgie, Pharmazie oder Kinderheilkunde schrieben, förderten die Wiedergeburt der europäischen Wissenschaft.

Die Muslime bewahrten nicht nur das medizinische Wissen der antiken griechischen und hellenischen Welt, sie erneuerten und erweiterten dieses Wissen auch, bevor sie es weitergaben an ein Europa, das Untersuchungen, Experimente und Fortschritt Jahrhunderte vorher aufgegeben hatte.

Quelle: Islamische Zeitung

@ Ekrem Yolcu

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